„Kunst schafft Gemeinschaft“

Darf ich dich ein bisschen rot anmalen!“ – „Aber nur einen Tupfer auf die Hand. Dann bin ich dran!“ – „Serio, welche Farbe nehmen wir jetzt?“ – „Blau, das helle Blau! Bis zu den aufgezeichneten Linien! Dann Grün!“ – „Gelb finde ich aber viel schöner!“

Inmitten einer zwanzigköpfigen Schar von Schülerinnen und Schülern, die wie in einem Bienenstock emsig hin- und herschwirren, Farbkübel und Wasser herbeiholen, auf dem Boden kniend mit überdimensionalen Pinseln großflächige weiße Leinwände bunt bestreichen, zugleich ihre schöpferische Arbeit gestenreich begutachten und unendlich viele Fragen stellen – inmitten dieser Schar künstlerisch motivierter Mädchen und Buben der „maestro d’arte“, Serio Digitalino, der Meis­ter der Kunst! Und Ramona Fuchs, ihre Lehrerin, darf dieses bunte Treiben ihrer mit Kitteln und weißen Schürzen bekleideten Zöglinge heute einmal nur als Aufsicht führender Zaungast vom Rande der Szene aus betrachten und mit der Kamera aufzeichnen, wie sie alle einmal so richtig nach Herzens Lust mit leuchtenden Acrylfarben zugleich spielen und arbeiten.

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Mit Erst-, Zweit- und Viertklässlern im Alter von sechs bis elf Jahren ging an der Joseph-Maria-Lutz-Schule in einem eigens dafür vorbereiteten Werkraum das Projekt „Malen mit Kindern“ über die Bühne, das Serio Digitalino bereits in München mit großem Erfolg durchgeführt hat und das von der Landeshauptstadt gefördert wird. „Kunst schafft Gemeinschaft“ steht als Intention und Lernziel dahinter. Davon ist der in Pfaffenhofen durch eine Reihe von Ausstellungen bekannte Künstler fest überzeugt. Gerade bei jungen Menschen, die unter behutsamer Anleitung vereint etwas gestalten, wächst das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit.

Und das ist gerade bei der heute nicht selten auftretenden Vielzahl von Kindern verschiedener Nationalität in einem Klassenverband ein dringliches Anliegen bei der schulischen Erziehung. Sich gegenseitig helfen, miteinander reden, sich beraten, Fragen stellen, Mut machen und Kritik an sich und anderen üben zu können, ist vorweg in frühen Jahren Voraussetzung für ein besseres Kennenlernen, Tolerieren und Zusammenleben und damit eine präventive Maßnahme gegen die Bildung von Vorurteilen bereits im Kindesalter. Die Förderung sozialer Kompetenzen steigert die Fähigkeit zur Integration. Nur auf solchem Weg können junge Menschen mit den Jahren lernen, allmählich in eine Gesellschaft hineinzuwachsen und sich in ihr zurechtzufinden. Und das geschieht bei diesem Projekt in einem Rahmen, in dem Kinder in ihrem Lebensraum „Schule“ einmal ganz unbeschwert, ja spielerisch etwas gestalten dürfen, ohne dass die sonst durchaus wichtige Zensur von Lehrern, der sie ja täglich – allzu oft auch noch im Elternhaus – ausgesetzt sind, wie ein Menetekel über ihrer Arbeit steht.

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Die Kunst bzw. das künstlerische Gestalten leistet aber gerade im Grundschulalter darüber hinaus einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Zeichnen und Malen gehören gerade bei ihnen noch zu den originären sprachlichen und emotionalen Ausdrucksformen, wenn sie oft während des anstrengenden Pflichtunterrichts irgendwelche Männchen oder Fabelwesen auf ein Blatt Papier oder in ihre Hefte kritzeln. Kinder denken und fühlen in Bildern. Deshalb trägt das Projekt auch ganz wesentlich zu ihrem Spracherwerb und zur Spracherziehung bei. Nicht ohne Grund gehört das Erzählen nach Bildern oder Bilderfolgen zu den wichtigsten sprachlichen Übungen des Deutschunterrichts.

Bereits in der 1./2. Jahrgangsstufe der Grundschule weist in Bayern der Lehrplan „Deutsch“ im Rahmen der Sprachgestaltung auf die Nutzung „bekannter Textvorbilder (z. B. Bilder- und Kinderbücher)“ hin (Lernbereich 3.2. Texte planen und schreiben). In der 3. und 4. Jahrgangsstufe werden beim mündlichen Spracherwerb und vor allem auch beim schriftlichen Sprachgebrauch in den Fächern „Deutsch“ und „Englisch“ sehr häufig Bildergeschichten eingesetzt, um den Wortschatz zu aktivieren oder zu erweitern und Kreativität, Ideenreichtum und Einfühlungsvermögen der Kinder zu steigern. Das großflächige Zeichnen und Malen als bildhaftes Gestalten sind zudem bei diesem Projekt Mittel, um an Techniken und Ausdrucksformen der bildenden Kunst heranzuführen. Es werden Erfahrungen gesammelt im Umgang mit Materialien und Werkzeugen und dabei auch die Motorik geübt, was im digitalen Zeitalter der iPhones und iPads in immer höherem Maße eine Notwendigkeit darstellt. Der Blick für Raum und Perspektive wird geschärft, das ästhetische Empfinden bei der Komposition mit Farben geschult, die Lust zum Experimentieren angeregt, die Fachsprache der Kunst erlernt, das Differenzierungsvermögen zwischen Realität und Utopie geschärft und bei der Betrachtung und Diskussion über das geschaffene Werk die Perspektive erweitert und das Urteilsvermögen gestärkt.

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Sergio Digitalino sieht noch eine andere, für ihn sehr wichtige Komponente seines Projekts „Malen mit Kindern“: Bei einer gezielt gewählten Thematik ist es leicht, auf diesem Weg auch „kulturelles Erbe zu vermitteln“. „Mein Zuhause – Pfaffenhofen a. d. Ilm“ hatte er in der Joseph-Maria-Lutz-Schule als Aufgabe gestellt. Rathaus und Spitalkirche schmückten die Stirnseite des Werkraums. Sie hatten die Schüler bereits am Tag zuvor auf großflächige Leinwände gebannt. Eine Beschreibung und Erklärung dieser historischen Denkmäler der Stadt lässt sich leicht in den Arbeitsprozess integrieren. Gegenwart und Vergangenheit werden transparent.

Eine fächerübergreifende Dimension wird damit erreicht. Die Kinder setzen sich mit der Funktion dieser Gebäude auseinander, schärfen ihren Blick für das Charakteristische an ihnen, erfahren Wichtiges über Entstehung und Baustil und lernen so ein Stück ihrer angestammten oder für andere auch neuen Heimat kennen. Digitalino betrachtet sein Projekt neben der Vermittlung instrumenteller und kognitiver Lernziele als ein wichtiges Medium zur Integration derer, die hier ein Zuhause gefunden haben, das ihnen noch sehr fremd ist und das ihnen auf diese Weise vertraut gemacht wird. Sie werden ihrer Umwelt mit anderen Augen begegnen, wenn sie deren kulturelle Besonderheit verinnerlicht haben.

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Diese Überzeugung mag beim Künstler davon herrühren, dass er selbst 1977 in Bayern eine neue Heimat gesucht hat und in München eine handwerkliche wie künstlerische Ausbildung erhielt, nachdem er seine Geburtsstadt Matera, in der süditalienischen Region Basilicata gelegen, in jungen Jahren verlassen hatte. Sie wurde zur „Kulturhauptstadt Europas 2019“ gewählt. Ihre prähistorischen Höhlensiedlungen, die Sassi, gehören bereits zum Unesco Welterbe. Auch das mag ein Grund dafür sein, dass Serio Digitalino die Vertrautheit mit der regionalen Kulturtradition für eine unabdingbare Notwendigkeit hält, dass Menschen zur Integration fähig sind. Ab 1. Juli werden die künstlerischen Gemeinschaftsarbeiten der Mädchen und Buben, nachdem das Projekt auch noch in der GS in Niederscheyern durchgeführt worden ist, in der Rathausgalerie ausgestellt.

von Hellmuth Inderwies