von Hellmuth Inderwies
Otto von Bismarcks asketische These, dass „das Leben um vieles angenehmer wäre, wenn die Vergnügungen nicht wären“, hat bei den Zeitgenossen des „eisernen Kanzlers“ keineswegs ungeteilte Zustimmung gefunden, weil man sich bewusst war, dass der Begriff „Vergnügen“ der Interpretation nicht geringe Spielräume gewährt. Heute muss über den hohen Stellenwert von Ablenkung und Zerstreuung auf Grund anderer Lebensumstände nicht mehr diskutiert werden. Er steht außer Frage: Der Mensch braucht das Amüsement zu Erholung und Regeneration! Empfinden und Verständnis dessen, was „Vergnügen“ seinem Wesen nach ist, und das, was „Vergnügen“ bereitet, scheinen freilich trotz eines reichhaltigen Angebots im Vergleich zu früher einer ziemlichen Einfalt zum Opfer gefallen zu sein. Die vorherrschende Erwartungshaltung der Masse hat sich ganz offensichtlich zu einem emotionalen Einheitsbrei gewandelt.
Die durchwegs recht gut besuchten Veranstaltungen eines sehr vielfältigen und qualitativ ansprechenden Pfaffenhofener Kultursommers, der eben zu Ende ging und das Thema „Kunst im Fluss“ behandelte, lassen keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass der Magnet, der die Massen anzieht, einen anderen Namen trägt: Das Spektakel muss die Szene beherrschen, am besten als Sensation die Gefühle einer Pseudogemeinschaft in extreme Wallung bringen! Der Nervenreiz muss stimmen, soll das Unternehmen zum Erlebnis werden. Und das gilt bereits für seine marktgerechte Ankündigung. Im Vergleich mit dem Historienzauber eines römischen Wagenrennens auf der Pferderennbahn, der an einem einzigen Tag über zehntausend Besucher in seinen Bann zog, nimmt sich das Echo auf die rund sechzig Veranstaltungen der Stadt über Monate hinweg doch eher bescheiden aus. Lag es etwa daran, dass kein einziges unter diesen zumeist eintrittsfreien „Events“, die ja zum großen Teil sogar zu einem landesweiten bayerischen Festival gehörten, einem Spektakel gleich kam, ja nicht einmal mit diesem Begriff im Titel geworben wurde, wo doch heute jedes Allerweltsereignis, das Menschen anlocken soll, als „Spektakel“ deklariert wird?
Von den 1 710 000 Ergebnissen, die sich im Internet angesammelt haben, nur einige wenige Kostproben: „Mittelalterspektakel“, „Glyzerinspektakel“, „Laufspektakel“, „Kochspektakel“, „Schwullesbenspektakel“, „Run-Fun-Spektakel von Unterginsbach“, wie sich ein jährlich abgehaltenes Straßenfest mit Walking nennt! Sogar bei der Vermittlung von politischen und ethischen Werten bedient sich ein radikaldemokratischer Verband junger Leute des Begriffs, wenn er sich mit dem Logo „Spektakel für Vielfalt und Toleranz“ schmückt. Und in Bayern bemühen sich gegenwärtig die Parteien im Ringen um Landtags- und Bezirkstagsmandate darum, ein möglichst wirkungsvolles „Wahlspektakel“ zu veranstalten. Da offenbart in Pfaffenhofen bei der „schwarzen Staatspartei“ ein blütenreines Weiß mit der Web-Adresse „unseres Kandidaten“ auf den Werbeplakaten, dass alte volkstümelnde Zöpfe in ein vermeintlich fortschrittlich-jugendliches Outfit umfrisiert wurden. Man war ja zu solch revolutionärer Maßnahme geradezu gezwungen, um nach dem herzchenroten Wahlkampfspektakel und dem Desaster bei der verlorenen Stadtratswahl den Anschluss nicht ganz zu verlieren. Wer wie die „Freien Wähler“ nur mit „gepaarten“ Brustbildern seiner Bewerber aufwartet, der pflegt da doch wohl immer noch einen verhältnismäßig altbackenen barocken Heiratsstil.
Medienwirksame Spektakel gegen Demokratiemüdigkeit?
Nun gut! Die politischen Parteien müssen bei solchem Anlass den Appellcharakter ihrer Werbemaßnahmen überspitzen, um vor allem die abgestumpften Massen wenigstens kurzfristig aus ihrer Demokratiemüdigkeit herauszureißen. Eine Langzeitwirkung auf das politische Bewusstsein lethargischer Bürger erreichen sie damit wohl kaum, so lange sich das Individuum „Mensch“ nicht selbst darum bemüht, sich in seinem Alltag nicht ständig nur von Aufsehen erregenden Ereignissen gefühlsmäßig vereinnahmen zu lassen und dabei vergisst, über deren eigentlichen Stellenwert ein wenig nachzudenken. Das einzige Kriterium für Qualität kann dabei nicht nur darin bestehen, dass eine Sache „Spaß machen muss“. Das ist eine Aussage, die genau so platt und nichts sagend daherschreitet wie wenn etwas als „super“ oder „geil“ oder sogar als „mega“- oder „gigageil“ bezeichnet wird. Es sind nur Modevokabeln des Jugendjargons, die sich breit gemacht haben und darauf hindeuten, dass Vorgänge recht oberflächlich und rein emotional aufgenommen werden und zudem Zeichen der Unfähigkeit, Empfundenes sprachlich halbwegs präzis zum Ausdruck zu bringen. Man verwendet sie, weil sie alle verwenden, genau so wie man dorthin rennt, wo alle hinrennen, weil man eben auch dabei gewesen sein muss, wenn Massen ihren großen Auftritt haben.
Je aufreizender die Werbung für eine Ware, desto größer der Verkaufserfolg – je spektakulärer die Ankündigung eines „Events“, desto monströser der Andrang! Bei solcher Maxime können die „gediegenen“ Veranstaltungen eines Pfaffenhofener Kultursommers naturgemäß mit dem Spektakel eines römischen Kampfwagenrennens, das als Formel I der Antike verkauft wird, nicht mehr mithalten. Dabei soll nicht unter den Tisch gekehrt werden, dass solche Darbietungen durchaus legitim, ja sogar notwendig sind. Der Mensch unserer Tage braucht als Ausgleich zu seinem oft anstrengenden Alltag auch die seichte Unterhaltung. Bei der Werbung für das Spektakel sollte man es allerdings bei der nostalgischen Verbrämung belassen und es nicht als „Legende von Ben Hur“ bezeichnen, damit beim Besucher der Eindruck vermieden wird, es handle sich um ein wirkliches Kulturereignis. Das Prädikat „Legende“ steht allenfalls noch dem Gesamtroman von Lew Wallace zu, der im Untertitel darauf hinweist, dass es sich um die Geschichte eines Christen handelt („A tale of the Christ“). Das Wagenrennen spielt hier lediglich eine untergeordnete Rolle.
Reiner Konsum schafft noch keine Kultur
Dem Publikum sollte durchaus bewusst werden, dass Massenware, die als Kulturspektakel verkauft wird, oft nur noch einen ökonomischen Wert besitzt und lediglich kurzfristige Gefühlsreize provoziert. Und es sollte ihm bewusst werden, dass der ästhetische und geistige Gewinn, der nun einmal zum Kulturerlebnis gehört, hier kaum messbar ist. Denn der Mensch wird, wie es die „Frankfurter Schule“ (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno) lehrte, von solcher „Kulturindustrie“ ausschließlich auf die Konsumentenrolle reduziert und mit trivialen und oberflächlichen Nichtigkeiten gefüttert. Er wird mit dem bedient, was ihn nicht verwirrt und anstrengt, was wenig Energie kostet und schnell vergessen werden kann. Anwesenheit und Small Talk stehen im Mittelpunkt. Damit aber verliert der Kulturbetrieb seine Funktion als Vermittler und Parameter eines kritischen Bewusstseins der Gesellschaft. Dekadenz wird transparent, so wie im alten Rom, als man begann, das Volk mit „Brot und Spielen“ und dem damit verbundenen, sich in seiner Abnormität immer mehr steigernden Spektakel ruhig zu stellen. „Panem et circenses“ boten damals die Staatsoberen sogar kostenlos. Die Massen sollten nicht zum Denken kommen.
Otto von Bismarcks These wird unter solchen Voraussetzungen durchaus plausibel. Für den scharf denkenden Strategen des Reiches, der in der Politik ein staatsmännisches Spiel sah, bedeutete „Vergnügen“ so viel wie geistige Anstrengung und gleichzeitig die damit verbundene Freude am erkämpften Erfolg. In der Tat bereitet ja gerade das, was bei seinem Erwerb mit Mühen verbunden ist, echte Selbstzufriedenheit. Auch wenn unser Lebensrhythmus hin und wieder ein oberflächliches Amüsement braucht, zum Wesen von Kultur und zum Vergnügen an der Kultur aber gehört nicht das Spektakel, sondern ganz wesentlich das Training des Verstands, damit er nicht auf der „antiken Rennstrecke“ bleibt.