Jedem Ende wohnt ein Zauber inne

Das war’s dann mal. Fürs Erste. Soeben halten Sie die letzte Ausgabe des Pfaffenhofeners in Händen. Zumindest in dieser Form wird unsere Zeitung nicht mehr erscheinen. Der Pfaffenhofener integriert sich mit dem neuen Jahr in eine innovative, landkreisumfassende Publikation, die sämtliche Lokalzeitungen des Medienhauses Kastner in sich vereinigen wird.

So dürfen wir nun in den Kelch des Rückblicks einen wehmütigen Wermutstropfen kullern lassen – ein Ende ist zuallererst ein Ende. Wir halten es jedoch – positiv gestimmt – mit Tiziano Terzani und nehmen das Ende als Anfang. Hermann Hesse, der schlaue Dichter, behauptet gar, jedem Anfang wohne ein Zauber inne, was uns ermutigt zu glauben, ein Zauber wohne selbst im Ende.

Der Steinezähler vom Wochenmarkt

Es ist an der Zeit. Die Tage werden gezählt. Da kann uns auch der „Immerwährende Kalender“ aus dem bairischen Hinterland nicht darüber hinweg täuschen, dass es einen Anfang gibt und ein Ende. Auch ein Kreis hat ein Ende, und dieses Ende befindet sich genau da, wo kleine Kinder auf dem Kinderkarussell ihren Eltern zuwinken, am roten Feuerwehrauto die Glocke läuten und mit strahlendem Lächeln in die nächste Runde gehen. Das Ende ist der Anfang. Die Mathematiker unter uns suchen seit Jahrhunderten nach dem Ende der Zahlenreihen, und sie haben es gefunden in der Unendlichkeit. Auch eine Lösung.

Die beste Lösung hat Florian. Ich traf ihn eines Morgens auf dem Hauptplatz. Wochenmarkt. Hinter der Standlstraße saß er auf jenem Fleckchen Erde, auf dem ich mich am Ende der Zeit als Boccia-Spieler wiederfinden möchte, beäugte mit kritischem Blick die Steinchen um sich herum, traf eine Wahl, nahm einen Stein von der Größe eines Taubeneis auf und legte ihn zärtlich in eine Stranitze. Diese Papiertüte, die eigentlich Staritze hieß und auf Grund der mittelbairischen Lautverschiebung im auslaufenden 20. Jahrhundert als Stranitze in den Bairischen Wörterbüchern Aufnahme fand, war schon gut gefüllt – ein steinernes Monument kindlicher Genialität.

Ich will der Zeit nicht vorgreifen: „Was machst du da?“ – „Steine zählen.“ – „Wie alt bist du?“ – „Fünf.“ – „Dann gehst du noch gar nicht in die Schule.“ Obwohl es keine Frage war, hob Florian den Kopf: „Ja.“ Ich wollte es jetzt wissen: „Wie viele Steine hast du schon?“ – „Weiß ich nicht.“ – „Wie weit kannst du denn schon zählen?“ – „Bis hundert.“ Er stutzte nur ganz kurz und sah mich dann an: „Wie weit kannst du denn zählen?“ – „Bis eine Milliarde, schätze ich.“ – „Hast du viel Geld?“ – „Nein.“ – „Ich kaufe mir mal einen Ferrari und einen Lamborghini.“ Ich musste wieder die Initiative ergreifen: „Was machst du mit den Steinen?“ – „Ich nehm sie mit nach Hause.“ – „Und dann?“ – „Auf den Kachelofen, zum Dekorieren.“

Das war der Moment, in dem ich die Segel strich. Ich wollte plötzlich nicht mehr Boccia spielen, nie mehr, nicht mal am Ende der Zeit. Ich wollte einfach nur noch und unbedingt Steine, Steinchen auf einem Kachelofen betrachten, liebevoll ausgelegt, vielleicht in Spiralen, in Kreisen, in akkuraten Linien, die ins Unendliche der kindlichen Phantasie laufen – ungezählte Steine, doch gezählt wie die Tage, die wir Großen so unbedacht laufen lassen ins Unendliche.

(von Lorenz Trapp)