Es brauchte eine Zeit bis sich die Bilder im Kopf etwas gelegt hatten- Bilder von Trängas und Pflastersteinen. Doch im Nachhinein bleibt ein anderes Bild haften, ein anderes als das von Bildzeitung, Spiegel und den anderen großen „Sendern“. Dies ist der Versuch, eine eigene Sicht der Proteste von Rostock wieder zu gegeben und dabei so nah wie m?ch an unmittelbar selbst Erlebtem zu bleiben, bis auf einige Berichte und Erlebnisse anderer, deren Namen durchgehend nicht genannt werden.
Wir waren zu fünft wie die Ölsardinen in einen kleinen Renault Modus gequetscht, Samstag früh drei Uhr am Rostocker Stadtcamp in der Werftstraße gleich an der Hafenausfahrt der Hansestadt angekommen. Wir, das sind zwei Schüler (unter ihnen Hannah Schratt), zwei Eichstätter Sozialpädagogikstudenten und ich. Wir waren überrascht gewesen, erst auf den letzten Kilometern vor Rostock vereinzelt Einsatzkommandos der Polizei am Straßenrand zu entdecken. Auch in Rostock selbst, wo wir schon Straߥnsperren oder sonstige Kontrollen bef?t hatten, waren nur sehr spärlich einige Polizisten zu entdecken.
Das Camp war nach einer Stippvisite im Medienzentrum der Globalisierungskritiker (wo auch noch um drei Uhr früh wackere Studenten in der alten Plattenbauschule aushielten) schnell gefunden. Das offiziell genehmigte Areal des Camps (ausgelegt auf 5000 Personen) war bereits voll, doch eine weitere, direkt anschlieߥnde Wiese war bereits von anderen in Beschlag genommen und mit einem Holzschild als Mondscheinwiese ausgegeben worden – hier fand sich noch Platz. So konnten wir uns noch eine Mittagsschlaf gönnen, bevor es um 11 Uhr los zum Sammlungspunkt des ersten Demo-Zuges am Hauptbahnhof gehen sollte. Um halb zwölf standen wir schließlich gemeinsam mit etwa 80 anderen Camp-Bewohnern an der S-Bahnstation Barmow. Schon zeigte sich die bunte Seite des Protests. Eine G8-Papp-Raupe Nimmersatt wurde noch am Bahnsteig montiert und einige Demo-Clowns mussten sich noch schminken. Im Zug dann erwartungsvoll gespannte Ruhe, nur wenige ruhige Gespräche wurden geführt. Eine ältere Dame hält einen DINA4 großn Karton mit der Aufschrift „Umweltschutz statt Raubtierkapitalismus.“
Am Bahnhof dann staut sich in der Unterführung hin zum Ausgang bereits die Masse, erste Sprechchöre erschallen. Die Klassiker unter den Parolen scheinen immer noch die beliebtesten zu sein: „Hoch, die internationale Solidarität“ Dann hinauf zum Bahnhofsplatz und hier erwartet uns ein leicht berauschendes Bild. Der weite, ovale Platz umgeben von 15-, 20-stöckigen Plattenbauten ist bereits voll mit Menschen. 40.000 verkündet die Demoleitung vom Lautsprecherwagen. Italienisch, Französisch, Englisch, auch Belgisch, Polnisch, Spanisch und afrikanische Sprachen sind zu hören.
Bunte Motiv-Plakate, Fahnen und Banner bilden ein Meer über den Köpfen der Menschen. „Smoke him Angie“, fordert ein Spruch neben dem Bild von Bush und Merkel, die eine verdächtig lange Zigarette qualmt – eine Anspielung auf den aktuellen Klimastreit. Acht mit Goldfolien bekleidete Jugendliche lassen sich mit Angeln, an denen Geldscheine baumeln, vor einem riesigen, gelben Banner in Einkaufswägen herschieben: „Ihr seid der Tod der Demokratie.“ Nat? sind auch etliche Wortspielchen zu sehen: „Gibt 8“ oder „MenschenverAchtung“.
Auf der Bühne am Sammelpunkt beginnen die ersten Reden. Ein italienischer Trotzkist propagiert eine konsequente Haltung gegen jegliche Kriegspolitik. Sich Bush zum Sündenbock zu machen wäre zu einfach. Auch seinen linken Staatschef Romano Prodi greift er an, obwohl dieser gleich in einer seiner ersten Amtshandlungen die italienschen Soldaten aus dem Irak zurückgeholt hat. In Afghanistan finde genauso ein „verbrecherischer Krieg“ statt. Eine peruanische Kartoffel-Bäuerin klagt über die Ausbeutung der Rohstoffe in ihrem Land, wo selbst das Wasser auf Druck von Weltbank, WTO und der G8-Politik privatisiert wurde. Sonst gibt es keine neuen Kredite. Und die Kartoffeln aus ihrer Landwirtschafts-Kooperative fänden manchmal keinen Abnehmer, da sie trotz ihrer niedrigen Löhne nicht gegen die subventionierten Billigkartoffeln aus der Massenherstellung reicher Länder Europas oder der USA ankommen. Schließlich spricht noch ein Mitglied der Verdi-Jugend über den Streik der Telekom, wo Streikbrecher mit Geldprämien gelockt und die Streikenden fortwährend eingeschüchtert würden.
Das sind die Inhalte der Globalisierungskritiker, die sich vorwiegend an den aus dem globalen Wirtschaftssystem entstehenden Ungerechtigkeiten reiben. Sie sehen auߥrdem einen Zusammenhang zwischen der Armut in der Dritten und dem Reichtum in der Ersten Welt. Brechts ber? Ausspruch ziert gleich mehrere Plakate: „Reicher Mann und armer Mann, standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Doch das sind nur die zugespitzten Enden des Protests. Fast verzweifelt versucht die große friedliche Mehrheit ihre Inhalte, argumentierend, Fakten aufzeigend und veranschaulichend zu transportieren. Trotzdem scheint in der Zurückhaltung, mit der die unzähligen Flyer, Magazine und Protestzeitungen verteilt werden, schon die Befürchtung mitzuschwingen, es könnten am Ende des Tages doch wieder nur sehr einseitige Botschaften nach draußn an die große Öffentlichkeit gelangen. Aber daran möchte jetzt noch niemand denken. Das „Netzwerk Wissen“ verteilt Broschüren, in denen es seine Auffassungen zum derzeitigen Patent- und Urheberrecht und seinen Konsequenzen, zum Beispiel für Aids-Patienten in Afrika, erläutert. Eine Extra-Ausgabe zum im Rahmen der Proteste stattfindenden Vorlesungs- und Seminarprogramm „Flight & Migration“ erzählt schreckliche Flüchtlinngsdramen von den Mittelmeerküsten Europas und das Magazin „Das ist der Gipfel“ berichtet von Attac-Netzwerkern und deren Widerstands-Strategien oder den Hintergründe zur G8.
Langsam nach ein einhalb Stunden auf dem Bahnhofsplatz setzt sich der Zug schließlich in Bewegung. Unzählige linke Gruppen marschieren jeweils gemeinsam in Blöcken und schließen sich dem Zug an: Neben Marxisten-Leninisten, einer Lesben- und einer Palästinenser-Soligruppe wirken die Grüne Jugend, Gewerkschafter, Kirchen und Linkspartei schon fast wie die etablierten Großen. Der riesige schwarze Block von Autonomen fällt jedem gleich zu Beginn der Demo auf. Die Polizei spricht später von 2000 Autonomen. Die aber marschieren die ganze Strecke genauso friedlich mit, wie alle anderen – doch die Parolen sind etwas schärfer. Das bedrohliche schwarz der Kapuzenshirts, die vielen Sonnenbrillen und Banner wie „Krawalle und Bambule – Frankfurter Schule“ könnten auch nur Pose sein.
Während der ersten zwei Stunden des Zuges bis zum Treffpunkt am Hafenmarkt, wo sich alle mit dem zweiten Demo-Zug aus Richtung Schutower Kreuz vereinigen sollen, gerät zu einem großn Fest. Zu Samba- und Reggae-Rhythmen wird getanzt gegen den G8-Gipfel, bei Ska und Romamusik fangen die Protestierer an zu hüpfen und aus den Fenstern der Innenstadtwohnungen beobachten Anwohner das Treiben. Was die sich wohl denken“ Werden die schaulustigen Fenstersimsgucker entdeckt, gibt es auch einen Sprechchor für sie: „Leute lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein!“ Einzelne Demo-Clowns posieren mit den wenigen Polizisten am Straßenrand. Überhaupt scheint das Deeskalationskonzept der Polizei auf zu gehen. Sie sind kaum zu sehen und halten sich wahrscheinlich bewusst im Hintergrund. Nur ein Polizeihubschrauber, der bereits am Bahnhof ohne Unterlass über den Köpfen den Demonstranten knatterte, fliegt stets so dicht über dem Zug, dass die Reden und Proklamationen aus den Lautsprecherwägen kaum zu hören sind. Das aber bleibt der einzige Hauch an militärisch-einschüchterndem Auftreten seitens der Polizei.
Bis zur Ankunft am Hauptplatz. Dort stehen plötzlich etliche Hundertschaften an Polizisten bereit und erwarten die Demonstranten. Allerdings noch leicht zurückgezogen von der Straße, über die der Demozug führt. An dieser Stelle kommt es zu einem entscheidenden Wendepunkt der Demonstration, beziehungsweise im Verhalten des Schwarzen Blocks. Die Berichte, die hierzu von Polizisten, Demonstranten und Demoleitung zusammengetragen worden sind, ergeben allerdings keine wirklich hundert Prozent sicheren Informationen. Fest steht, dass am Eingang zum Hafenmarkt ein verwaister Polizeibus unmittelbar am Rand des Demozuges stand. Nur hinter dem Lenkrad saß ein einziger Polizist. Von den voranmarschierenden friedlichen Blöcken erntet der Fahrer vielleicht etwas Häme und Clownerie. Plötzlich aber steht der Schwarze Block alleine vor dem Bus und beginnt ihn anzugreifen. Fenster werden eingeschmissen, der Fahrer flieht in seinem Bus. In diesem Moment sollen laut verschiedener Berichte, die Gewalt eskaliert und die Hundertschaften der Polizei auch auf den Schwarzen Block gestürmt seien. Wie genau der Ablauf der Eskalation war, lässt sich jedoch nicht mehr eindeutig rekonstruieren.
In der Menge friedlicher Demonstranten die noch hinter dem Schwarzen Block marschierte zeichnen sich, als sie die in der Ferne wild durcheinander laufenden Demonstranten, fliegende Steine und Trängasgeschosse sehen, Panik, Erschütterung und Traurigkeit ab. Die Stimmung unter den Teilnehmern ist in Gefahr sich zu spalten. Einige versuchen Steinewerfer abzuhalten, ein evangelischer Pastor mit grau-schwarzer, lockiger Mähne spricht in seinem Lautsprecherwagen von Polizei-Provokation und ruft: „Lasst euch nicht auseinander bringen, bleibt zusammen, geht weiter zum Kundgebungsgelände!“ Plötzlich ziehen die Trängasschwaden über uns, beißnd legt sich das Gas auf Augen, Mund und Nase. Es würgt einen. Jemand reicht eine Flasche zum Augen auswaschen. Danach brennt es noch mehr. In der nächsten Sekunde rennen die Autonomen brüllend auf uns zu, die Polizei dicht auf ihren Fersen. Wir verschanzen uns hinter dem Lautsprecherwagen. Die Polizei stürmt vorbei.
Danach bringt sich die Mehrheit der friedlichen Demonstranten in Sicherheit, was angesichts immer wieder schlagartig vorstoߥnder Polizisten und zur?chender Protestler nicht gerade einfach ist. Dann ziehen die schwarzen Rauschwaden des einen brennenden Autos (auch das ist zuviel), das in allen Medien gleich in den Plural gesetzt wurde in den bew?en Himmel. Die Wolken verdunkeln sich zusehends. Einer Metapher gleich beginnt es unmittelbar nachdem die ersten Wasserwerfer in die Menge zielen, zu regnen. Zeitgleich beginnen auf der Bühne am Kundgebungsgelände die Reden. Immer wieder fordern einzelne Redner, die zwar ihre Argumente abarbeiten, die Krawalle aber natürlich wahrnehmen, die Polizei auf, sich zurück zu ziehen. Das versucht auch die Demoleitung. Doch sie hat die Demo nicht mehr in der Hand. Beide Seiten, gewalttätige Demonstranten und Polizisten, scheinen außer Rand und Band.
Der Straßenkampf dauert mindestens vier volle Stunden. Später lässt sich aus sicherer Distanz genau beobachten, wie Autonome und Polizisten vorgehen. Besonders letztere müssen sich fragen lassen, was ihr Vorgehen zu diesem Zeitpunkt noch mit Deeskalation zu tun hatte. Nachdem die Polizei die Autonomen immer wieder auseinander trieb, mischten sich friedliche Demonstranten und Autonome am Rande des Kundgebungsgeländes immer mehr. Daraufhin rückte die Polizei näher. Die Demonstranten bilden Menschenketten um die Polizei nicht auf „ihr“ Gelände zu lassen. Diese aber stürmt meist rücksichtslos und in vollem Spurt immer aufs Neue in Gruppen von zehn bis dreißig schwer bewaffneten Polizisten in die Menge. Dann bleiben sie Mitten in der Menge stehen. Laute, aggressive Sprechchöre setzen ein „Haut ab! Haut ab! Haut ab!“ oder „Wir sind friedlich, was seid ihr““ Plötzlich stoßen einzelne Polizisten in die Menge, ziehen einen Jungen mit schwarzem Kapuzenshirt heraus und transportieren ihn unter lauten Buhrufen, teilweise auch Befreiungsversuchen aus der Menge, ab. Ältere Damen versuchen mit Polizisten ins Gespräch zu kommen, sie zu bewegen, doch besser ab zu rücken? Auf die Frage, warum denn das nicht möglich sei, antwortet ein Polizist „Weil hier Straftaten verübt werden“, und zeigt auf einen Vermummten. „Das ist eine Straftat.“
Auf der Bühne beginnt die schwülstige Deutsch-Pop-Band „Juli“ zu spielen. Kaum einer kann verstehen, was die Gruppe hier sucht, nur einige Teenanger tanzen zur Musik. Die Situation ist absurd und bizarr. Während auf der Bühne pathetisch-romantische Texte aus den Lautsprechern dringen, knallen im Hintergrund Schreckschusspistolen, der Hubschrauber lärmt und die Menge schreit aufgeheizt.
Ein verloren in der Menge stehender, älterer Herr verteilt wie in Trance weiter eine Broschüre von Attac. Der Demo-Organisator des großen Globalisierungs-Netzwerkes, Werner Rätz, dem so sehr an einer inhaltlichen Auseinandersetzung liegt, entschuldigt sich später bei der Bevölkerung der gesamten Stadt. Das habe man nicht gewollt. Die Autonomen haben genau das getan, was Medien und Politik die vergangenen Wochen gepredigt haben: die Gewalt eskalieren lassen. In wie weit dieses Klima auch künstlich erzeugt, Gewalttäter angezogen wurden, wo die Deeskalation der Polizei völlg versagt, beziehungsweise gar nicht stattgefunden hat, darüber wird noch zu diskutieren sein. Viel wichtiger aber wird für die große Mehrheit der Demonstranten sein, dass endlich über die Inhalte ihres Protests gesprochen wird.
In den kommenden Tagen wird hier eine weitere Reportage über das Seminargelände des Convergence-Camps, die Stimmung im Rostocker-Stadtcamp und die Art der Organisation und Vernetzung der Gruppen in Rostock erscheinen.