Die 68er-Bewegung: Gefahr nostalgischer Verklaerung? Erinnerungen eines Zeitgenossen an die „nachgeholte Revolution“

von Hellmuth Inderwies, Kulturreferent
der Stadt Pfaffenhofen

Wenn gegenwärtig in den Medien das Jahr 1968 fast wie das Gründungsjahr einer Institution in Erinnerung gebracht, mitunter sogar gefeiert wird, weil eine ganze Bewegung nach ihm benannt wurde, dann hat dies lediglich metaphorische Bedeutung. Denn diese „nachgeholte Revolution“, wie sie vielfach von Historikern bezeichnet wird, hatte bereits zu Beginn des Jahrzehnts ihren Anfang genommen und die dafür Verantwortlichen wurden später nur deshalb „68er“ genannt, weil es in diesem Jahr zu einer Häufung und Eskalation signifikanter Vorgänge gekommen war: Am 2. April: Kaufhausbrand in Frankfurt a. M. (Andreas Baader, Gudrun Ensslin u. a.), zwischen 11. und 17. April: Osterunruhen nach dem Attentat auf SDS-Führer Rudi Dutschke, 11. Mai: Sternmarsch nach Bonn zur Verhinderung der Notstandsgesetze, die dann am 30. Mai verabschiedet wurden.
In dieser Zeit (September 68) hatte ich bereits meinen Dienst am Schyren-Gymnasium in Pfaffenhofen angetreten und fühlte mich hier nach den beiden recht stürmischen Referendarsjahren am Wittelsbacher-Gymnasium in München und am Goethe-Gymnasium in Regensburg wie auf einer Insel der Seligen. Die Schüler waren an einen konsequenten Erziehungsstil traditioneller Art gewöhnt, wissbegierig und zielstrebig, und was zuvor in den Großstädten auch schon bei 14- und 15jährigen als bewusste Provokation der Schule und ihrer Lehrer inszeniert wurde, das waren hierzulande in dieser Altersstufe die üblichen, oft sogar recht geistreichen Schülerstreiche, die zum Erwachsenwerden gehören und niemanden verletzten. Als ich in einer neunten Klasse die Französische Revolution in Geschichte behandelte, wurde mir so recht bewusst, warum große Ballungszentren die Arenen gesellschaftlichen Umbruchs sind, wie es uns im Studium gelehrt worden war.

68

Zuvor hatten nämlich in Regensburg ganze Klassen während der Unterrichtszeit zusammen mit den Studenten der noch jungen, 1962 gegründeten Universität gegen die Notstandsgesetze demonstriert, deren Zielsetzung sie oft nicht kannten. Die Lehrer, vorweg der geisteswissenschaftlichen Fächer, wurden gezwungen entgegen dem Lehrplan den Unterricht auf die Tagesereignisse auszurichten. Wer dem nicht entsprach, erlebte die totale Verweigerung bzw. mutwillige Zerstörung von Einrichtungen.

Der ganz normale Wahnsinn
Bei meiner ersten Begegnung mit einer 11. Klasse zu Beginn des Schuljahres 1967/68 am Wittelsbacher-Gymnasium hatte man das Klassenzimmer in einen Spielsalon verwandelt, widmete sich eifrig dem Kartenspiel, ohne mich zu registrieren, und bewarf mich mit Stanniolkugeln, als ich die Unterhaltung mit Deutschunterricht zu stören versuchte. Von verstaubter Schulordnung und zu harter Benotung abgesehen, wusste man solche Handlungsweise kaum zu begründen. „Wir wollen diskutieren!“ war zum Modepostulat geworden, ohne dass man oft fähig war überhaupt ein Thema zu benennen. Die jüngeren Lehrer wussten zumeist mit Kompromissen wieder einen halbwegs geordneten Betrieb herzustellen, ältere setzten sich teilweise nur mit extremer Härte durch oder sie resignierten. Der „Funke der Revolution“ war in den Großstädten von den Universitäten übergesprungen, ohne dass eine Mehrheit der Gymnasiasten seine Ursache und Zielsetzung nur annähernd begriffen hatte.

Der geistigen Vorbereitung der 68er- Bewegung liegt eine empirische Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten zugrunde, die bereits Ende der 50er Jahre durchgeführt worden war und nach ihrer Auswertung 1961 in der von Jürgen Habermas u. a. veröffentlichten Studie „Student und Politik“ veröffentlicht wurde. Nach ihr besaßen nur neun Prozent der Befragten demokratisches Bewusstsein und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit, während die große Masse apolitisch bzw. autoritätshörig sei. Der Philosoph und Soziologe der neomarxistischen „Frankfurter Schule“, die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründet worden war, forderte deshalb eine schnelle Reform von Universität und Bildungswesen.

In der Tat waren wir als Studenten, als ich 1960 mein Studium an der LMU in München begann, nach meinem Empfinden zwar nicht gerade unpolitisch, aber sehr obrigkeitsorientiert. Wir bewunderten unsere Lehrer, die für uns Vorbilder waren, manche vergötterten wir geradezu, wenn ich an den Historiker Franz Schnabel, den katholischen Religionsphilosophen Romano Guardini oder den Germanisten Hugo Kuhn denke, den die Studenten mit einem riesigen Fackelzug davon abhielten, einem Ruf an die Universität Köln zu folgen. Dass man bei Prüfungen in Anzug und Krawatte zu erscheinen hatte, was im Übrigen auch für den Lehrer am Gymnasium im Unterricht galt, den man damals noch mit „Herr Professor“ anredete, und zudem gewiss oft übermäßig hart und vielfach von oben herab „examiniert“ wurde, das empörte uns nicht wenig. Wir nahmen es aber hin, weil wir es entsprechend unserer Erziehung gewohnt waren, Leistung zu erbringen und auch mitunter ungerechtfertigte Härte zu ertragen.

Politische Aggression
Der Professorensohn Rolf Pohle, einer ihrer Vertreter und zugleich ein wichtiger Motor der Außerparlamentarischen Opposition (APO), schaffte nach verschiedenen Kandidaturen erst 1967 den Sprung an die Spitze der Studentenvertretung, als ich die Universität schon verlassen hatte (1965). Seine Argumente gegen Vietnam-Krieg und Antifaschismus konnten uns bei seinen rhetorisch gewandten Auftritten zwischen den Vorlesungen überzeugen, nicht die schon damals von ihm gebrauchten Parolen, die später zum Allgemeingut der Bewegung gehörten: „Unter den Talaren (der Universitätsobrigkeit) der Muff von tausend Jahren!“ oder, was uns als Germanisten besonders traf: „Schlagt die Germanisten tot, färbt die blaue Blume (Symbol der deutschen Romantik) rot!“ Für uns galt er in dieser Zeit noch als nicht allzu ernst zu nehmender „Spaßguerilla“. Später wurde er wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Waffenbesitzes und Unterstützung der RAF zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Beim Prozessauftakt, vom Richter nach seiner Identität befragt, antwortete er: „Mein Name ist Mensch!“ 2002 verstarb er in Athen. Von meinem, 1960 in München der Künstlergruppe SPUR beigetretenen ehemaligen Klassenkameraden Die-ter Kunzelmann, dem späteren Kommunarden, Chefprovokateur der 68er und selbst ernannten „Grußmufti des Chaos“, mit dem ich in Bamberg drei Jahre die Schulbank drückte, hörte und las ich fast täglich, bekam ihn aber nur ein einziges Mal bei einer Flugblattaktion zu Gesicht.

Wer die Meinung vertritt, dass Gewalt erst mit dem Jahr 1968 in die Bewegung kam, der täuscht sich. Herbert Marcuses Essay „Repressive Toleranz“ (1965), in dem er betont, dass es ein Naturrecht der unterdrückten Minderheiten sei, Widerstand zu leisten und auch außergesetzliche Mittel bis hin zum Umsturz anzuwenden, wurde sehr schnell in die Tat umgesetzt, nachdem in München ja zuvor schon bei den „Schwabinger Krawallen“ (Juni 1962), an denen Andreas Baader, der spätere Terrorist, beteiligt war, die Forderung nach „kultureller Selbstbestimmung“ erhoben wurde.

Der Ruf eines Stadtrats nach der Polizei wegen Ruhestörung durch eine Musikantengruppe auf der Leopoldstraße und das überharte Einschreiten der Ordnungshüter mit der folgenden Eskalation, sind als Vorboten der Radikalisierung der 68er-Bewegung zu sehen. Ich konnte am Abend des 22. Juni 62 nach einem Vortrag gerade noch die Universität, deren Türen versperrt wurden, verlassen und Gewalttätigkeiten mit Mühe entkommen, als am Geschwister-Scholl-Platz die Reifen von etwa 50 Polizeifahrzeugen zerstochen wurden, Pflastersteine flogen und Straßenbahnen entgleisten.
Historisch sinnvolle Eruption?
Auch wenn die 68er eine in sich heterogene Bewegung bildeten, zu der Radikale und Pazifisten, Fans der amerikanischen Pop-Kultur und antiautoritäre Provos, Hippies, Naturschützer und Gammler gehörten, gemeinsam war ihnen allen, dass sie eine grundlegende Veränderung der überkommenen Lebensverhältnisse mit Nachdruck und auf schnellstem Wege durchzusetzen versuchten. Der Terrorismus, der nach dem Brüsseler Kaufhausbrand im Mai 67, dem darauf folgenden Flugblatt der Kommune I (Kunzelmann) „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser …?“ und dem 2. Juni viele Jahre Angst und Schrecken verbreitete, rekrutierte sich aus dieser Bewegung und gehört zu dieser „nachgeholten Revolution“, die in der Geschichte erfahrungsgemäß unmittelbar nach einem längeren Krieg folgt, um die durch ihn verursachte Stagnation gesellschaftlicher Entwicklung aufzubrechen und einen beschleunigten Reformprozess durchzusetzen. Das besetzte Deutschland war allerdings 1945 dazu nicht imstande.

Von einer endgültigen Bewertung der 68er-Bewegung ist man immer noch ein gutes Stück entfernt. Sicher ist, dass sie politisches Bewusstsein auf breiter Ebene weckte, den Impuls gab für einen längst notwendigen Wandel im Demokratieverständnis, für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und für vielfältige Reformen im Erziehungs- und Bildungswesen. Sie hat die Augen geöffnet für eine geistige Emanzipation und Selbstverwirklichung des Menschen, nicht nur der Frau, und die Bedeutung des Natur- und Umweltschutzes ins Bewusstsein gerufen. Sie hat aber auch in ihrem ungestümen Vorwärts- und Freiheitsdrang und in ihrem geschichtslosen Opportunismus übertrieben und damit grundsätzliche Wertnormen im Leben beschädigt oder zerstört: Mit ihrer sozialistischen „Gleichmacherei“ hat sie nicht nur bei Vielen unerfüllbare Erwartungshaltungen geweckt, sondern auch das Leistungsbedürfnis des Menschen nivelliert. Der antiautoritäre Erziehungsstil führte bei der Jugend vielfach zu Orientierungs- und Haltlosigkeit. Familiengemeinschaft und praktizierte Verantwortung gegenüber Staat und Gesellschaft sowie die Achtung vor dem Mitmenschen haben erheblichen Schaden genommen!

Rolf Pohles „Mein Name ist Mensch!“ ist eher zu einer Parole der Rechthaberei und des Egoismus als der Selbstverwirklichung geworden und hat den Weg gewiesen hin zu einer kalten, unpersönlichen und materialistischen Anspruchgesellschaft unserer Tage, die lautstark den Frieden auf der Welt fordert und gleichzeitig dem Mitmenschen mit Mobbing und Gewalt begegnet. Vor einer nostalgischen Verklärung der 68er jedenfalls sollte man sich gewiss hüten.