Der römische Kaiser Augustus und die Integration Europas

von Hellmuth Inderwies

In einer Zeit, die allenthalben ein recht gespaltenes Verhältnis zu ihrer Geschichte besitzt, halten nicht wenige Veranstaltungen und Reden zu Gedenk- oder Jahrestagen für überflüssig, mitunter sogar für provokativ, weil aus der Vergangenheit ohnehin keine Erkenntnisse für die Gegenwart oder Zukunft zu ziehen seien, und ziemlich viele sehen in ihnen lediglich eine nostalgische Träumerei, der sich nur weltfremde Idealisten hingeben. Alle, die an dieser Veranstaltung „Wir sind Europa“ beteiligt sind, gehören scheinbar zu diesen weltfremden Idealisten. Denn sie sind davon überzeugt, dass ein gemeinsames, innerlich gefestigtes Europa nur auf dem Fundament seiner gewachsenen kulturhistorischen Werte, die auf Athen, Rom und das Christentum zurückgehen, entstehen und bestehen kann. Dies wiederum setzt Kenntnis und Bewusstsein voraus, dass diese Werte dem alten Kontinent in der Vergangenheit nicht einfach zugefallen sind. Ihre zumeist mühsame Durchsetzung und Verwirklichung führten zu goldenen Zeiten, ihre Missachtung und ihr Verfall waren stets die Ursache leidvoller, barbarischer Katastrophen.

kaiser+

Der massive Blick, den gegenwärtig die Medien auf den Beginn des 1. Weltkriegs vor hundert Jahren werfen, lässt der Erinnerung an den 2000. Todestag des römischen Kaisers Augustus (23.09.63 v. bis 19.08.14 n. Chr.) nur wenig Raum, obwohl gerade seine Gestalt und seine Zeit jene beiden Phänomene der Dekadenz und der folgenden Blütezeit in besonderem Maße widerspiegeln. Die gegenwärtige Situation Europas ist durchaus vergleichbar mit jenen Jahren, als der junge Gaius Octavianus ziemlich unvermittelt in das weltpolitische Geschehen geworfen wurde. Nach der Ermordung seines Adoptivvaters Gaius Julius Caesar an den Iden des März 44 v. Chr. trat der Achtzehnjährige dessen Erbe gegen den ausdrücklichen Rat seines Stiefvaters Lucius Marcius Philippus an und lud sich damit eine außerordentlich schwere Bürde auf: Denn es ging ja nicht nur darum, Caesars privates Vermögen, das dessen alter Kriegsgefährte Marcus Antonius zusammen mit der Staatskasse an sich gebracht hatte, als rechtmäßiger Eigentümer zu erkämpfen, nicht nur darum, das familiäre Renommee nach der Ermordung seines Adoptivvaters zu wahren, sondern es ging vor allem darum, ein schweres politisches Erbe in Zeiten der Krise des Imperiums anzutreten und diese Krise zu überwinden. Denn die Republik befand sich auf dem Weg in den Untergang.

Wollte Octavian Erfolg haben, dann musste er zunächst das breite Volk auf seine Seite bringen, er musste von unten her den Staat erneuern. Auch Europa würde dieses Verfahren gut zu Gesichte stehen, will es wirklich ein Europa der Bürger sein und nicht ein Europa der Reglementierungen von oben. Octavian zahlte aus eigener Tasche jedem Angehörigen der Plebs die von Caesar testamentarisch versprochenen 300 Sesterzen (Bei etwa 320 000 Römern ergibt dies eine Summe von rund 10 Mio. €!). Er schuf sich, um seine legitimen Ansprüche durchzusetzen, ein schlagkräftiges Heer. Da er kein Staatsamt begleitete wie M. Antonius, sondern nur einfacher Staatsbürger war, hatte er dazu keine Berechtigung. Als Usurpator übergab er deshalb seine Truppe aus zumeist alt gedienten Veteranen dem Senat, wurde in diesen aufgenommen und erhielt dafür als Proprätor die fehlende Legitimation einer militärischen Befehlsgewalt, wobei ihn Cicero, der in diesen Maßnahmen eine Chance zur Rettung und Wiedererrichtung der Republik sah, tatkräftig unterstützte. In einer seiner Senatsreden rühmt er den damals neunzehnjährigen Octavian, den er sich zum Instrument für seine politischen Pläne machen wollte, ob seiner Klugheit und seiner Gesinnung:

„Auf ihm allein beruht die Hoffnung auf Freiheit…er will den Staat sichern, nicht zerstören … Nichts ist ihm teurer als die Republik, nichts wichtiger als euer Ansehen, nichts erwünschter als das Urteil wohlgesinnter Männer…“ (Orationes Philippicae, 5.49 – 51)

Cicero freilich hatte sich in dem jungen Mann getäuscht. Denn Octavian erzwingt nach der siegreichen Schlacht gegen Antonius in Mutina (Modena) 43 v. Chr., bei der beide römischen Konsuln gefallen waren, seine Wahl in dieses Amt, geht im sog. 2. Triumvirat in ein Zweckbündnis mit M. Antonius und Lepidus ein, besiegt zusammen mit ihnen in der Schlacht von Philippi (42 v. Chr.) die republikanischen Caesarmörder Brutus und Cassius und erlebt danach sein politisches und moralisches Tief durch die gewaltsame Enteignung von Land in Italien, um damit hunderttausend Veteranen zu versorgen und vor allem im Perusinischen Krieg (41/40 v. Chr.) gegen den Bruder des M. Antonius, nämlich Lucius.

Dieser war 41 v. Chr. zum Konsuln gewählt worden und bekämpfte zusammen mit Fulvia, seiner Schwägerin, den jungen Emporkömmling. Da die Stadt Perusia in der kriegerischen Auseinandersetzung den beiden Schutz geboten hatte, ließ Octavian nach ihrer Einnahme den Stadtrat exekutieren und mehr als 300 römische Senatoren und Ritter an den Iden des März 40 am Altar des inzwischen wie einen Gott verehrten Gaius Julius Caesar als Opfer hinrichten. „Moriendum esse.“ – „Es muss gestorben werden.“ soll er den um Gnade Flehenden geantwortet haben, wie Sueton berichtet („Divus Augustus“, 15).

Integration Europas nach zwei verheerenden Weltkriegen
In seiner Schrift „De clementia (I.9)“ weist der Philosoph Seneca später darauf hin, dass solche Tiefpunkte im Leben Octavians zu einer radikalen Umkehr seines Denkens und Handelns geführt haben. Der grausame Machtpolitiker wandelte sich zum nachsichtigen Pazifisten. Nicht wenige althistorische Wissenschaftler, so Jochen Bleicken (Augustus: Eine Biographie, letzte Aufl. 2010) oder Pedro Barceló (Augustus und die Macht der Worte, 2002), sind der Meinung, dass seine Gewaltmaßnahmen notwendige Voraussetzung dafür waren, dass es danach zu einer „apollinischen Ära“, zu jener blühenden Epoche der „Pax Augusta“ bzw. „Pax Romana“ überhaupt kommen konnte. Sie gilt als Epoche der staatlichen und gesellschaftlichen Erneuerung, des wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs, der Eingliederung unterschiedlicher Völker und Stämme und vor allem des inneren Friedens des Imperiums über das erste nachchristliche Jahrhundert hinaus. Und sie wiederum könnte ein Beispiel geben für den Weg, den man auch bei der Integration Europas nach zwei verheerenden Weltkriegen gehen sollte.

Als der 35-jährige Octavian nach seinem Sieg über Marcus Antonius und Kleopatra in der Seeschlacht bei Actium (31 v. Chr.) und der Annexion Ägyptens, das er dem Imperium als Provinz einverleibte, als unumschränkter Machthaber nach Rom zurückgekehrt war, wurden nicht nur die Tore des Janus-Tempels geschlossen als Zeichen dafür, dass nun der Bürgerkrieg zu Ende sei und im ganzen Reich Frieden herrsche. Dies geschah nach dem Bericht des Titus Livius seit der Gründung Roms 753 v. Chr. erst zum dritten Mal („Ab urbe condita“ 1, 19!). Es wurden nicht nur die unrechtmäßigen Verordnungen aus der Zeit des Triumvirats außer Kraft gesetzt, Octavian widerstand vor allem der Versuchung, den allenthalben verhassten Königstitel anzunehmen. Er war aus dem Chaos einer untergehenden Republik als glänzender Sieger hervorgegangen und reorganisierte nun so behutsam das Regierungs- und Verwaltungssystem des Staats in seinem Sinne, dass er stets als Retter der alten Ordnung angesehen wurde.

kaiser2

Dafür erhielt er den vom Senat neu geschaffenen Ehrennamen „Augustus“. Er leitet sich vom lat. „augere“ („wachsen lassen, ver/mehren, erhöhen“) und bedeutet nichts anderes als der „Erhöhte“, der „Erhabene“, der „Mehrer des Reiches“, ein Titel, wie ihn später auch die deutschen Kaiser übernahmen. Und dieser römische Senat war nun auch bereit, alle wichtigen Ämter im Staat, das des militärischen Oberbefehls, des Volkstribunen, des obersten Gerichtsherrn, des Zensors und des obersten Priesters auf seine Person zu vereinigen. Nicht als Alleinherrscher, sondern als „princeps inter pares“ als „Erster unter Gleichen“ im Senat und als „Erster Bürger im Staat“ erwarb er sich jene „auctoritas“, jene Würde, die die neue Staatsform, das sogenannte Prinzipat, kennzeichnete.

„Ansehen“ und „Glaubwürdigkeit“ galten für ihn als Prämissen, um den Staat zu lenken, der Begriff „potestas“ („Macht“, „Amtsgewalt“, „Herrschaft“) war außer Mode gekommen. Diese Vorbildfunktion blieb sehr bald auch bei der politischen Elite der römischen Gesellschaft nicht ohne Wirkung und könnte heute gleichermaßen Image und Ansehen in der Politik sehr förderlich sein. Hatten sich Optimaten und Popularen im Bürgerkrieg noch heftig bekämpft, um an die Macht zu kommen, so war jetzt die individuelle Leistung für das Gemeinwohl der Maßstab dafür, ob man zur Nobilität gehörte und geeignet war, ein öffentliches Amt zu begleiten. Die individuelle Leistung eines politischen Mandatsträgers zur Zeit des Augustus aber beruhte auf der „virtus“, der persönlichen Courage, sowie der „iustitia“, der Gerechtigkeit, der „clementia“, der Milde und Nachsicht vorweg Unterlegenen gegenüber, und der „pietas“, dem Pflichtgefühl. Das alles trug zur „dignitas“ bei, dem sozialen Rang in der Gesellschaft, und war Grundlage für das Klientelsystem, um als Patron zu gelten, der bei wechselseitiger Hilfe ärmeren Bürgern Existenz, Schutz und Beistand gewährte.

Augustus als Motor der Stadterneuerung Roms
Vergessene moralische Grundsätze wurden unter Augustus erneuert. Seine Ehe-, Erb- und Luxusgesetzgebung bot dem ausschweifenden Lebenswandel der Vermögenden, der verbunden war mit Ehe- und Kinderlosigkeit, Einhalt und führte u. a. zur Verbannung Ovids nach Tomi am Schwarzen Meer: Wohl wegen seiner „Ars amatoria“, seinem Lehrbuch der Liebe, und vermutlich auch wegen seines Wissens von den Ehebruchsaffären der Augustus-Enkelin Julia! Seine gleichnamige Tochter wiederum verbannte Augustus, nachdem er sie etliche Male in seinem Sinne verheiratet hatte, wegen ihrer sexuellen Eskapaden auf die Insel Pandateria, wo sie strengste Askese einhalten musste. Mit der nach dem Geschlecht benannten „Lex Julia“ sollte die Geburtenrate erhöht werden. Verheiratete kinderlose Männer mussten eine hohe Erbschaftssteuer entrichten, Eltern mit drei Kindern erhielten Steuerfreiheit.

Der Religiosität des Volkes verlieh er mit der Wiedereinführung alter Riten und der aufwändigen Restauration verfallener Tempel einen neuen Impuls. Allenthalben wurde Augustus zum Motor der Stadterneuerung Roms: Aquädukte, Brunnen und Zisternen zur Versorgung mit Wasser entstanden oder wurden restauriert. Es sollen damals täglich 370 bis 450 Liter pro Einwohner in der römischen Metropole verbraucht worden sein. Latrinen und Kanäle für Abwässer wurden gebaut, ers-te öffentliche, beheizte Thermen entstanden, so die Agrippa-Thermen, um die Hygiene zu verbessern usw. Nicht selten betonte der Princeps, dass er eine Ziegelstadt in eine Marmorstadt umgewandelt habe. Um die Wirtschaftskraft des Imperiums zu heben, initiierte er eine Reform des Finanzwesens. Die Einführung einer Kopf- und Grundsteuer und die strenge Trennung des kaiserlichen Etats von dem des Senats schufen größere Gerechtigkeit und Transparenz. Dass die reibungslose Umsetzung vieler dieser Initiativen von einer gezielten Propaganda abhing, war Augustus bewusst. So waren es Zirkus und Theater, in denen die armen Bürger Roms Anspruch auf reservierte Plätze hatten, und vor allem die bildende Kunst und die Dichtung, die als wirksame Medien eingesetzt wurden. Gab es hier zwar viele Reglementierungen, die künstlerischem Schaffen die Ursprünglichkeit nahmen, so schufen sie andererseits auch ein Klima, das dem dichterischen Werk eines Vergil, eines Horaz oder auch der Geschichtsschreibung eines Livius sehr entgegenkam. Der Vertraute des Princeps, Gaius Maecenas, übernahm als Förderer von Kunst und Wissenschaft zugleich die Rolle des Propagandisten.

Wenn Augustus ein besonderes Augenmerk auf das Wohlergehen der Provinzen legte und sie immer wieder besuchte (Er hielt sich einmal drei Jahre ausschließlich in Gallien auf.), so diente das vor allem der inneren Festigung des Imperiums und seiner Sicherheit nach außen. Innerhalb der Grenzen des Weltreiches von etwa 3,3 Millionen qkm Landfläche (EU etwa 4,4 Mio) lebte eine Vielzahl unterschiedlicher Stämme und Völker, die man unterworfen hatte oder die in das Imperium eingedrungen waren und die es zu integrieren galt. Von den schätzungsweise 50 Millionen Einwohnern besaßen nur 4 Millionen das römische Bürgerrecht, und die militärische Stärke Roms beruhte damals lediglich auf etwa 150 000 Infanteristen. Da nach der Schlacht bei Actium aus Kostengründen die Heeresstärke fast halbiert worden war, konnte man Ordnung und Frieden mit militärischen Mitteln auf längere Zeit nicht erhalten. So setzte Augustus bei der Befriedung und der Integration jener verschiedenartigen fremden Völkerschaften auf eine kulturelle Durchdringung. „Er gab nicht nur den Stämmen sowohl der Griechen als auch der Barbaren eine ganz feste Ordnung, sondern er gewann auch ihre Zuneigung, zuerst mit Waffengewalt, dann aber auch ohne Waffen, und zog sie willig auf seine Seite, weil sein mildes Wesen für sie besser erkennbar wurde, und er brachte sie dazu, auf ihn zu hören.“ (Nikolaos von Damaskus, Über das Leben und die Erziehung von Caesar Augustus I,1)

Ohne regionale Eigenheiten zu unterdrücken, fußte die „Pax Romana“ auf der „Sitte der Alten“ (mos maiorum). Römische Kleidung und die lateinische Amts- sowie die griechische Bildungssprache besaßen Vorrang. Mit dem Bau von Tempeln und Bädern vermittelte der Princeps römische Lebensart, die Errichtung von Märkten garantierte Einkommen und Wohlstand. Auch wenn das Chris-tentum verboten war, so wurde in dieser Zeit doch der Boden für seine Ausbreitung bereitet.

Schwindende Solidarität und wirtschaftliche Konkurrenz
Wenn David Engels, Professor und Inhaber des Lehrstuhls für „Römische Geschichte“ an der Universität Brüssel, vor kurzem in einem Zeitungsbeitrag die Frage stellte „Braucht Europa heute einen Kaiser Augus-tus?“ („Die Welt“ vom 07.07.2014), dann mag es zunächst überraschen, wenn er die Alleinherrschaft eines Imperators als Problemlösung der europäischen Krise ins Kalkül zieht. Wer aber die gegenwärtige Situation der EU betrachtet, der kann zumindest seinen Vergleich mit der Zeit des Niedergangs der römischen Republik nicht von der Hand weisen.

Er nennt hierbei als gemeinsame Merkmale bzw. Analogien:
„Masseneinwanderung und Bevölkerungsrückgang; Atheismus und Fundamentalismus; Brot und Spiele; Globalisierung und Multikulturalismus; Kriminalität und Umweltverschmutzung; Demokratiedefizit und Elitenherrschaft; Pazifismus und Terrorismus, Kapitalismus und Staatsbankrott.“

All das sei keineswegs das zweifelhafte Privileg des modernen Europas, sondern es habe auch den Untergang der spätrepublikanischen Gesellschaft des römischen Imperiums herbeigeführt. Und er konstatiert:
„Es grenzt schon an Selbsthypnose, geflissentlich zu übersehen, dass die überall als Garanten unseres Wohlbefindens beschworenen Grundwerte sich längst in ihr Gegenteil verkehrt haben: ‚Freiheit‘ steht für Standortverlagerung und Casinokapitalismus, ‚Demokratie‘ für eine Kulisse, hinter der die wahre Macht längst in die Hände von Lobbys und technokratischen Eliten gelangt ist, ‚Toleranz‘ für die Selbstkasteiung des Abendlands und seiner Unterwürfigkeit unter alles, was ‚anders‘ anmutet usw.“

Mögen diese Worte schon fast wie das Fanal eines unabwendbaren Desasters klingen, vor allem auch deshalb, weil David Engels glaubt, dass in Europa die Weichen schon für die nächsten 30 Jahre gestellt seien und nur mehr die Wahl bleibe zwischen einer Fahrkarte in eine katastrophale Krise oder die Rückkehr zu 28 unbedeutenden Nationalstaaten, die zu einer leichten Beute Amerikas oder neuer Imperien in Asien werden dürften … die gegenwärtige Krise der EU ist eine unumstößliche Tatsache! Sie zeigt sich nicht nur an der schwindenden Solidarität zugunsten eines wirtschaftlichen Konkurrenzdenkens, sondern schlechthin am Verfall jener Werte, mit denen sich die Menschen früher, gerade auch während der „Pax Romana“, identifizierten sowie an einem sinkenden Bildungsniveau und zuweilen sinkender Leistungsbereitschaft! Und sie zeigt sich an einem defizitären Demokratiebewusstsein, wenn zuletzt gerade einmal 43 % der Bürger sich an der Wahl zum Europäischen Parlament beteiligten und in einigen Ländern sogleich der Ruf nach einem starken Mann ertönte.

Soll Europa eine lebenswerte Zukunft haben, dann setzt das voraus, dass es von unten her entsteht und dass sich seine Bürger sehr schnell auf jene Werte besinnen, die in der wechselvollen Geschichte des Kontinents vielfach mit großen Opfern und großem Leid erkämpft wurden. Nur sie, nicht die Finanzwelt und ihr Markt, bilden ein dauerhaftes Band und garantieren eine „Pax Europa“. Um aber zu erkennen, dass die Völker und Staaten des alten Kontinents nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft und gerade deshalb auch eine Solidargemeinschaft sind, ist der Blick in die Vergangenheit eine unabdingbare Voraussetzung. Es ist höchste Zeit, dass der Mensch, will er als „modern“ gelten, zu Beginn des 3. Jahrtausends n. Chr. endlich von und aus seiner Geschichte lernt. Deshalb ist es geradezu eine Pflicht, sich des 2000. Todestages des römischen Kaisers Augustus zu erinnern und einen Blick zurückzuwerfen in eine Epoche, mit der die Gegenwart eine Vielzahl von Analogien aufweist. Nur so ist eigenes Dasein erklärbar, nur so lassen sich Probleme leichter zu lösen, weil sie nicht mehr als Novum erscheinen, und nur so ist ein gangbarer Weg in die Zukunft zu finden. Derzeit freilich besitzt das Wort Ingeborg Bachmanns wieder einmal uneingeschränkte Bedeutung: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

(Unser Redaktionsmitglied hielt den viel beachteten Vortrag im Rahmen der Präsentation „Wir sind Europa“, die das italienische Generalkonsulat am 27.07.14 anlässlich der Präsidentschaft Italiens im Rat der EU in München durchführte.)