von Hellmuth Inderwies
Der österreichische Schriftsteller und Theaterkritiker Egon Friedell scheint mit seiner lakonischen Feststellung, dass wir „unsere Mythologie täglich dreimal in der Zeitung lesen“, fast ein wenig tief zu stapeln, wenn man die zahllosen Untersuchungen, Kommentare und historischen Abhandlungen betrachtet, die gegenwärtig in den Gazetten, Illustrierten und Wochenblättern zum 2000-jährigen Jubiläum der Hermannsschlacht im Teutoburger Wald verbreitet werden. Nicht wenige von ihnen sind gekennzeichnet von Wunschdenken, gewagten Thesen und haltlosen Vermutungen. In der Tat gibt es kaum ein Ereignis in der deutschen Geschichte, das ob seiner lückenhaften und zudem einseitigen Überlieferung in höherem Maße zu einer Mythenbildung verführt hat, als eben diese Kriegskeilerei zwischen Germanen und Römern im Jahre 9 nach Christus, deren Ausgang Kaiser Augustus zu jener bekannten Wehklage veranlasst haben soll: „Quintili Vare, legiones redde!“ – „Quintilius Varus, gib die Legionen zurück!“ (Sueton)
„Nichts war grausamer
als dieses Gemetzel“
Der „Römischen Geschichte“ des Velleius Paterculus (~ 20 v. Chr. bis nach 30 n. Chr.), des einzigen Zeitzeugen unter den Chronisten, ist lediglich zu entnehmen, dass man dem Cherusker Arminius (17 v. Chr. bis ~ 21 n. Chr.) das Bürgerrecht und den Adelsrang eines Ritters im Imperium verliehen hatte, dass die Germanen, „ein Volk von geborenen Lügnern“ mit „ungeschlachtem Wesen“, unter seiner hinterhältigen Führung drei Elitelegionen, ebenso viele Reitergeschwader und sechs Kohorten der Römer niedermetzelten, dass sich der arglose sowie „körperlich und geistig unbewegliche“ Varus in aussichtsloser Lage in sein Schwert stürzte und dass einige seiner Offiziere in dieser extremen Situation ein recht unterschiedliches Verhalten an den Tag legten. Über Ort und Verlauf des Ereignisses sind in allen vorhandenen Quellen nur sehr unbestimmte bzw. unterschiedliche Angaben enthalten.
Das Hermannsdenkmal erinnert an die Varusschlacht
Die scheinbar genaueste topographische Fixierung („unweit vom Teutoburger Wald“) stammt von Publius Cornelius Tacitus, dessen „Annalen“ allerdings erst etwa 100 Jahre danach entstanden und der Arminius als „unbestrittenen Befreier Germaniens“ würdigt, während Frontinius ihn zur gleichen Zeit in ganz anderem Lichte sieht: „Der Germanenherzog ließ … die Köpfe derer, die er getötet hatte, aufspießen und an den Wall des feindlichen Lagers herantragen.“ Auch L. Annaeus Florus hebt in seinen historischen Skizzen hervor, dass die beutegierigen und verschlagenen Germanen die Römer während einer von Varus anberaumten Gerichtsverhandlung überfallen hätten und rundet das Bild der Gewalt folgendermaßen ab: „Nichts war grausamer als dieses Gemetzel in Sümpfen und Wäldern, nichts war unerträglicher als der Hohn der Barbaren, besonders gegen die Gerichtsherren. Dem einen stachen sie die Augen aus, anderen hieben sie die Hände ab; einem wurde der Mund zugenäht, zuvor aber die Zunge herausgeschnitten. Diese hielt einer der Barbaren in der Hand und rief: âDu Viper, endlich hast du aufgehört zu zischen’“. In einer noch späteren, sehr detaillierten Darstellung schmeichelt der griechische Historiker Cassius Dio (211 / 12 n. Chr.) in hohem Maße dem Klischeedenken seiner Zeit: Die unpassierbaren Wälder, Schluchten und Sümpfe Germaniens, ein ungeordneter römischer Tross mit vielen Frauen und Kindern sowie die ortskundigen Gegner mit ihren hinterhältigen Überfällen werden als plausible Ursachen für die Niederlage Roms geltend gemacht.
Auf Grund solcher Quellensituation bleibt das damalige Kriegsgeschehen weitgehend im Dunkeln. Selbst der germanische Name des Arminius ist nicht bekannt. Bis zum Beginn des 16. Jahrhundert wurde dementsprechend auch seiner Person wie dem Ereignis selbst als Gegenstand historischer Betrachtung und Deutung kaum ein Augenmerk gewidmet. Und wären 1507 die verschollenen „Annalen“ des Tacitus nicht wieder entdeckt worden und hätte sich der Humanist Ulrich von Hutten bei einem Romaufenthalt nicht durch deren Lektüre und das Lob dieses römischen Geschichtsschreibers zur Abfassung eines „Arminius-Dialogs“ (1529 veröffentlicht) inspirieren lassen, wäre der Mythos vom Teutoburger Wald wohl überhaupt nicht erwacht. Erst jetzt wird der lateinische Name „Arminius“, der sich sprachlich nicht vom Germanischen herleiten lässt, durch den seit althochdeutscher Zeit gebräuchlichen „Hermann“ ersetzt (Martin Luther).
Denn ein seit dem Dreißigjährigen Krieg in eine Unzahl von Territorien aufgesplittertes Deutschland wünschte sich sehnlichst eine Symbolfigur, um sich nach dem lange dahinsiechenden und 1806 von Napoleon endgültig aufgelösten mittelalterlichen Universalreich wieder aufzurichten und eine neue kulturelle Identität zu gewinnen. So wurde unter Nichtbeachtung der anderen historischen Quellen der von Tacitus gekürte „Befreier Germaniens“ zu einem deutschen Idol umgepolt, das im 19. Jahrhundert Garant der Befreiung vom französischen Joch und von der eigenen überholten Feudalherrschaft und zugleich Stifter der erstrebten nationalen Einheit werden sollte, die in anderen Staaten Europas längst verwirklicht war. Der germanische Stammesfürst wurde ganz einfach „verdeutscht“. Auch wenn die Germanen durchaus als Vorfahren gelten, so kann der Cherusker ebenso wenig von den Deutschen als „Deutscher“ beansprucht werden wie dies nicht selten in gleichem Maße mit dem Frankenkaiser Karl dem Großen geschieht (Im Übrigen gilt dies auch für die Franzosen!). Denn der Begriff „deutsch“ taucht erst nahezu 800 Jahre nach der Varusschlacht schriftlich fixiert auf, und zwar in lateinischer Form („theodiscus“) in den Lorcher Annalen.
Er bedeutet nichts anderes als „volkstümlich“, „zum Volk gehörig“, was vor allem Sprache, Sitten, Brauchtum und Rechtsverständnis der Leute angeht, um sich als eine Einheit von anderen Völkern, von Fremden, abzugrenzen und zu unterscheiden. Er verkörpert ein Gemeinschaftsbewusstsein, das weder unter der Vielzahl zwar verwandter, aber stets zerstrittener und sich bekämpfender germanischer Stämme vorhanden war, noch innerhalb dieser Stämme selbst. Die Germanen waren – das beweist schon ihre Siedlungsweise – eher Eigenbrötler. Als Bezeichnung für das mittelalterliche Reich („regnum teutonicum“ – „deutsches Reich“) setzt sich der Begriff im Bewusstsein des breiten Volks erst in der Zeit Heinrichs II. (1002 – 1024) vollends durch.
Hermann der Cherusker
wird Mythos der Deutschnationalen
Trotz einiger dichterischer Denkmäler (so Friedrich Gottlieb Klopstocks „Barditen“), die Hermann dem Cherusker in der Folge gewidmet werden, dauerte es noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, ehe er unter diesem Namen zum Mythos der deutschnationalen Bewegung wird. Heinrich von Kleists Schauspiel „Die Hermannsschlacht“ (1809 / uraufgeführt 1860), das als Motivationsschub im Kampf gegen die napoleonische Herrschaft gedacht war, machte ihn zum Freiheitshelden mit grenzenloser Opferbereitschaft im Kampf für Unabhängigkeit und nationale Einheit und wurde selbst bis 1945 zu einer auf die jeweilige politische Situation getrimmten und damit häufig missbrauchten Dichtung.
Der Student Ludwig Sand aus Wunsiedel, fanatischer nationalliberaler Geist der Burschenbewegung und Mörder des konservativen Dichters August Kotzebue, nannte den Cherusker kurz vor seiner Hinrichtung (1820) ganz im kleistschen Sinne den „Erretter des Vaterlandes“ und Turnvater Jahn erhob ihn gar zum „Volksheiland“, der Deutschland vor „Ausländerei“ und „Verwelschung“ bewahren möge, als er in seiner schriftlichen Skizze „Deutsches Volksthum“ (1810) beschwor: „Wenn einer seinen Töchtern Französisch lehren lässt, ist das ebenso gut, als wenn er ihnen Hurerei lehren lässt.“ Zwischen 1750 und 1850 entstanden weit über 200 Dichtungen und Musikwerke, die dazu beitrugen, den Mythos des Cheruskers immer mehr zur gelebten Ideologie werden zu lassen.
Sichtbarer Ausdruck hierfür war der Baubeginn des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald (1838), das Heinrich Heine zum Anlass nahm, das nationale Pathos in seinem satirischen Epos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844) ins Lächerliche zu ziehen: „Das ist der Teutoburger Wald, / Den Tacitus beschrieben, / Das ist der klassische Morast, / Wo Varus steckengeblieben. / Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, / Der Hermann, der edle Recke; / Die deutsche Nationalität, / Die siegte in diesem Drecke.“ Lediglich das Scheitern der Revolution von 1848 dämpfte diese überschwängliche Begeisterung für kurze Zeit, in der auch aus finanziellen Gründen der Bau des pompösen Hermannsdenkmals ruhte.
Es wurde erst nach dem „Deutsch-Französischen Krieg“ und der damit verbundenen deutschen Einigung (1870 / 71) im Jahre 1875 vollendet und eingeweiht. Eine über 26 Meter hohe Gestalt in Siegerpose streckt ein 7 Meter langes Schwert zum Himmel, das die Inschrift trägt: „Deutsche Einigkeit meine Stärke / Meine Stärke, Deutschlands Macht“. Das nationale Stimmungs- und Gesinnungshoch, das sich bislang vorweg gegen den „Erbfeind“ Frankreich richtete, wandelte sich nach der Niederlage im 1. Weltkrieg in der Weimarer Zeit zu einer nationalen Wehklage. Der einst von seinen Verwandten ermordete Arminius wird nun ähnlich der Siegfriedsage als tragischer Held die Identifikationsfigur eines im Felde „unbesiegten“ deutschen Heeres, dem die Heimat den Dolchstoß in den Rücken versetzt habe.
Dass das Dritte Reich und der Nationalsozialismus mit seinem Messiasgedanken den Hermann-Mythos auf seine Ideologie zugeschnitten und den kampfesfreudigen und heroischen Germanenfürsten schon allein aus rassistischen Gründen zur Lichtgestalt eines vorbildhaften wegweisenden Führers gemacht hat, liegt auf der Hand. Im Gegensatz zur DDR, die den Mythos bei der revolutionären Überwindung der Sklavenhaltergesellschaft am Leben erhielt, spielte er in der Bundesrepublik Deutschland keine besondere Rolle mehr.
Wenn aus Anlass des 2000-jährigen Jubiläums der Varusschlacht nun allerdings hierzulande allzu viele Stimmen auftauchen, die wie U. v. Hutten, Klopstock, Herder oder Kleist dieses Ereignis zum „Urknall der deutschen Geschichte“ und zur „Geburtsstunde der Deutschen“ erheben und damit zu einem spektakulären welthistorischen Ereignis hochstilisieren, dann frönen sie weiterhin einem Mythos, der die geschichtliche Realität über Jahrhunderte hinweg überdeckt und den Menschen nicht immer lautere Wege geführt hat. Selbst wenn zur Geschichte Mythen, Legenden und Irrtümer gehören, so sollten sich gerade die Deutschen bei der Betrachtung und Bewertung ihrer Vergangenheit weniger als Dichter und dafür mehr als Denker begreifen. Denn ein Mythos kann eben auch eine verführerische und täuschende Lüge sein.