Exakt 60 Jahre trennen uns, mich und meinen Freund Kobo. Kobo ist noch nicht mal drei Jahre alt, aber er rennt wie ein Wiesel mit Windel. Die Windel ist sein Handicap. Sie muss ab und an gewechselt werden, auch, wenn wir einen Spaziergang durch den Bürgerpark unternehmen. Wie auf dem Foto zu sehen, war es einer der Tage, an denen das Wetter gerade mal nicht auf einer Hitzewelle ritt.
Aber es war gut genug, und Kobo meinte, wir seien ja nicht aus Zucker. Nach Besuchen beim Biber, bei der Kröte und bei König Frietzsche am Froschkönig-Spielplatz (mit ausgiebigem Trampolineinsatz) hatten wir uns eine Stärkung verdient. Im Biergarten; der Schweizer Wurstsalat, begleitet von Apfelschorle, mundete uns beiden gleichermaßen, und so machten wir uns frisch gestärkt auf zur Erstbesteigung des Hopfenturms. Beim Abstieg auf der Treppenspirale (hopfennatürlich rechtsdrehend) hielt Kobe allerdings, zwei, drei Stufen über mir, plötzlich inne. Er machte ein Gesicht, als würde er ein wichtiges Geschäft zum Abschluss bringen, und teilte mir dann, quasi auf Augenhöhe, mit: „Windel“.
Aha, kein Problem. Direkt in der Nähe, gleich hinter dem Biergarten, befinden sich die Toilettenanlagen. Wir stiefelten los und bogen um die Ecke. Unter einem roten Sonnen- oder Regenschirm bewachte eine Dame neben einem Stehtisch einen flachen Teller mit drei Münzen – offensichtlich Entgelt für erledigte Entleerungen. „Wo“, fragte ich sie, „gibt es hier einen Wickeltisch?“ – „Ärstä Türä“. – Die erste Türe war offen, ich warf ein Auge zur Inspektion hinein: vier Urinale, zwei Zellen. Kein Wickeltisch. Zurück zur Wächterin: „Wo Wickeltisch? Wo wenigstens Wickelraum?“ – „Ärstä Türä!“ – Keine Chance. Die Tür zur Behindertentoilette mit Rampe stand sperrangelweit offen und zeigte einen Präsentierteller mit Kloschüssel und Haltegriffen. Nichts für uns Männer, und geschlechtsverpflichtet wie wir sind, wagten wir uns nicht in den Damenbereich. Also zerrte ich eine Decke aus unserem Rucksack, breitete sie schwungvoll auf den Boden, exakt auf jenem Punkt, der den Mittelpunkt des magischen Dreieckkreises Herren-Damen-Behinderte bildete, legte meinen Freund Kobe mit geübtem Judo-Griff in die stabile Rückenlage – und wechselte hurtig seine Windel.
Als wir das unfreundliche Areal verließen, passierten wir die Dame am Stehtisch unterm roten Schirm. Wir warfen keine Münze, und sie strafte uns mit Verachtung im Blick. Vermutlich haderte sie mit ihrer Unzulänglichkeit. Wir auch. Aber wir hatten trotzdem noch viel Spaß.
Da täusche ich mich wohl. Bei einer meiner Wanderungen über die traute Insel am Ende der Gartenschau bleibt mein Buchstaben saugender Blick an einem Schild der Stadtwerke hängen: „Chinaschilf“ steht drauf, und drum herum wächst wohl Chinaschilf. Die zweite Zeile auf dem Schilfschild lautet „Miscanthus sinensis“, und sofort erglüht eine Synapse in meinem Oberstübchen: Aha, so heißt das Schilf auf Chinesisch. Die dritte Zeile auf dem Schild des Schilfs hieß „Kleine Fontäne“. Erneutes Synapsenglühen, und schon war klar: Das ist die Übersetzung ins Deutsche. Von wegen, da täusche ich mich wohl, wie Sie, ausgewiesene Diplom-Lateiner und Hobby-Sinologen, mir jetzt gleich mit einem kräftigen „Halt, Hans Duschke hat sich geirrt!“ entgegenschleudern werden: „Miscanthus sinensis“ sei der lateinische, der botanische Name dieser Pflanze und meine nichts anderes als „Schilf, chinesisches“. Soso, und was ist dann mit „Kleine Fontäne“? Da schweigt der Lateiner, und der Sinologe genießt. Bei meiner nächsten Wanderung über die traute Insel werde ich die Kleine Fontäne“ überkleben mit „Depp, damischer“.
Um sechzehn Maß Bier zu produzieren, verbraucht der Brauer 80 Liter Wasser. Das und vieles mehr teilt uns das bunte Gießkannenorakel von der Insel Delphi mit einem „s“ zuviel mit. Kleiner Scherz: selbstverständlich nicht von der griechischen Insel – die armen Griechen haben in Europa nichts mehr zu melden –, nein, von „der“ Insel halt: Ilminsel, beschattet vom „Ocean Liner“, einem mächtigen Gebäude, das diesen, ich weiß nicht, woraus entwachsenen Namen kaum verdient, weil es ja nicht mal schwimmen kann. Der Gießkannenturm auf der Insel teilt uns auch mit, dass 50 Liter Wasser für die Reifung einer Orange benötigt werden. Da erscheint eine Maß Bier doch um einiges günstiger.
Der Gießkannenturm auf der Insel firmiert als Kunst. Ist das Kunst, oder kann das weg? Nach dem 20. August 2017, zum Ende der Gartenschau, muss das weg; ansonsten würden sich wieder Vandalen auf Völkerwanderung begeben und alles niedermetzeln, was ihnen nicht in ihren Wanderungskram passt. Besser geschützt, doch vom Prinzip her ähnlich, ist da wohl das „Projekt Mastaba“, das der global wirkende Verhüllungskünstler Christo demnächst realisieren will. In Abu Dhabi. Das mag unsere einheimischen Christo-Freunde, die sich im vergangenen Sommer mit Sieben-Meilen-Stiefeln und einem gewaltigen CO2-Fußabdruck auf Wallfahrt zu seinen „Floating Piers“ an den Lago d’Iseo locken ließen, nicht erfreuen. Ist ja dann doch ’ne andere Hausnummer.
Warum eigentlich in Abu Dhabi? Und nicht in Ouagadougou? Oder Honolulu? Ouagadougou, Abu Dhabi – Honolulu, Diri Dari – tutt’ uno, wie wir italienisch Inspirierten so gerne über die Lippen purzeln lassen, aber Abu Dhabi! Herr Christo zahlt, so wird wohl bald verlautbart werden, sein Projekt wieder selbst. Ich glaube das nicht, selbst wenn der Begriff „Mastaba“ ägyptische Grabbauten benennt, die aussehen wie eine abgeflachte Pyramide. Genau so eine nämlich will Herr Christo aus 400 000 Ölfässern bauen. Mein lieber Gott der Kunst, tu was! Oder leite wenigstens die Pilger um auf unsere Insel! Der Gießkannenturm hier in unserer Stadt ist genau so gut – wenn nicht besser! Ölfässer – ha, ich glaub’s einfach nicht.
Perspektivenwechsel: Man müsse, sagt der Volksmund, die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Vor groben vier Jahrzehnten, als die Welt noch voll war mit flockigen Sprüchen, entwischte einer christlich sozialen Union im Wahlkampf die Empfehlung, man müsse die Dinge so kommen lassen, wie man sie nehmen will. Ein vollmundiger Vorsatz damals, und wenn ich es recht betrachte, wäre inzwischen Zeit genug gewesen, die Dinge so kommen zu lassen, wie ich sie nehmen will. Hat wohl nicht so geklappt.
Nachhilfe kommt vom FORUM BAUKULTUR. Wer durch den Sport- und Freizeitpark schlendert, bleibt unweigerlich vor einer wie zufällig angeordneten Herde geometrischer Figuren stehen, jede auf einer Stelze thronend, mit Seitenflächen entweder rot, verspiegelt oder schwarz. Auf den Standpunkt kommt es an!, erklärt das FORUM BAUKULTUR auf einem Schild unter der Überschrift „Anamorphose“. Als Anamorphose (griechisch: die Umformung) bezeichnet man seit dem Mittelalter Bilder, die nur unter einem bestimmten Blickwinkel erkennbar sind. Die „Kunst der geheimen Perspektive“ nannte sie Albrecht Dürer; es ist dies eine Möglichkeit zur Verschlüsselung von geheimen Botschaften, die seit der Renaissance bei der illusionistischen Deckenmalerei eingesetzt wird.
Die Anamorphose spielt mit dem Blickwinkel, einem gewissen Punkt, einem Bild, einer Form, die wir nicht sehen, es sei denn, wir wissen, wo wir stehen. Sie fordert unsere Sinne und unser Gehirn mit einer Art optischer Täuschung heraus. Staunen, Suchen und Entschleiern machen den Reiz aus, und wenn Sie auf der Suche nach dem richtigen Standpunkt, der perfekten Perspektive verzweifeln: Das FORUM BAUKULTUR zeigt sie Ihnen! Wenn Sie durch das Guckloch schauen, verdichten sich die geometrischen Körper zur Fassade eines Gebäudes. Und das Gebäude ist rot! Da sollten sich die Schwarzen mal in die Küche setzen und darüber nachdenken.
„Drei Blumen“ und schon wieder Kunst! Diesmal im Sport- und Freizeitpark. Gut drei Meter ragen sie, aus Stahl gefertigt, in den Himmel, wachsen dem Besucher über den Kopf. Drei grüne Striche, auf denen rote Kreise sitzen. Die simple Darstellung erinnere an eine Kinderzeichnung. Der Betrachter, so steht es weiter auf einem erklärenden Schild, werde eingeladen, durch die unbeschwerten Augen eines Kindes zu blicken und die Natur mit all seinen Sinnen zu erfahren und auf sich wirken zu lassen. Sehen Sie die Bank im Hintergrund? Wenn Sie sich auf sie setzen, sehen Sie die Gartenschau und „Drei Blumen“ von außen, von der anderen Seite der Ilm. Dann sind Sie aber so was von raus …
von Lorenz Trapp