Es war, als wäre keine Zeit vergangen – und doch ist viel geschehen!
von Lorenz Trapp
„Zeiten gibt’s! Zeiten ändern sich! Das waren noch Zeiten!“ rutscht einem oft und leicht über die Lippen, wenn man sich an früher erinnert. Und tatsächlich stellt sich dann heraus: Das waren sie auch. Zeiten, die uns den Gefallen taten, sich zu ändern, und zugleich die Gnade erwiesen, nicht aus unserem Gedächtnis zu verschwinden. Wie sonst sollte aus einem jungen Lehrer eine tragende Säule der Kultur in der Kreisstadt werden, und wie sonst sollte sich der Erfolgreiche an den suchenden, von allen möglichen Musen geküssten Jüngling erinnern?
35 Jahre – das ist schon eine Zeit. Und vor genau dieser Zeit war es für den, der nun diese Zeilen schreibt, eine tägliche Schülerpflicht, den Mann zu treffen, dem er heute als Kür einen Platz im Terminkalender abgerungen hat. Nein, er trifft sie immer noch sehr gerne, seine „Ehemaligen“! Und Zeit nimmt er sich dann ganz einfach für sie. Aber unter ganz anderen Umständen!
Lustlos, so schrieb die Abiturzeitung des Schyren-Gymnasiums im Jahre 1973, stehen einige Schüler der 13b vor dem Klassenzimmer und warten auf ihren Lehrer. Wo bleibt er denn? Er wird doch nicht krank sein? Nein, diese Annahme wäre zu vermessen. Der junge Studienrat Hellmuth Inderwies fehlt nie. Da biegt er auch schon um die Ecke … Unerbittlich, unwiderruflich klingt sein uns vertrautes âRein in’ Stall!’ Mit dem gewohnten âSo!’ eröffnet er nun auch diese Deutschstunde. âWie will i sagen, aah, sind heute alle da? Wo ist der Lorenz, raucht der draußen wieder eine Zigarette?’
Der Meister und sein Schüler: 35 Jahre nach dem Abitur besucht Lorenz Trapp seinen früheren Deutschlehrer Hellmuth Inderwies im aktiven Ruhestand. Die Farbe der Schals, so betonen sie, hat eine Bedeutung.
Wäre eine mögliche Erklärung gewesen. Heute trinkt der ehemalige Schüler lustvoll Espresso in des ehemaligen Lehrers Arbeitszimmer. Hellmuth Inderwies ist vor vier Jahren in den Ruhestand getreten, hat dann noch ausgeholfen: Insgesamt fast 38 Jahre Schuldienst am Schyren-Gymnasium. Und die 13b war die erste Klasse, die er zum Abitur begleiten durfte. Sie gehörte zum ersten Abiturjahrgang dieser neu gegründeten Schule. Einige seiner „Ehemaligen“ sind Kollegen geworden und unterrichten hier, einigen begegnet er regelmäßig in den Sitzungen des Stadtrates, dem er seit 1996 angehört. Und als Kulturreferent der Stadt, in einem Amt, dem er in den vergangenen zwölf Jahren seinen Stempel aufgedrückt hat, denkt er noch nicht daran, sich aufs Altenteil zu verlegen. Das verhindert wohl auch die lange Liste der Ämter und Funktionen, die sich in seiner Vita findet.
Bierkrüge und Wimpel
zieren das Bücherregal
Was hat ein Bierkrug, was haben Bierkrüge mit Kultur zu tun? Rotarische Wimpel, Ehrenurkunden und Krüge mit allen möglichen Emblemen, Wappen und anderen Aufdrucken, zieren in seinem Arbeitszimmer die Bücherregale, die an allen Wänden vom Boden bis zur Decke reichen. „Durchwegs Krügerl vom Sport“, wiegelt Hellmuth Inderwies ab, „bis auf wenige, die uns als Studenten vom Oktoberfest oder vom Nockherberg nach Hause begleitet haben“. Auch wenn sie vor den Büchern platziert sind, schaffen sie es nicht, deren gewaltigen Eindruck zu mindern. „An die 5000 werden es hier wohl sein“, sagt er, „und es werden immer noch mehr“. Manchmal, gesteht er, kaufe er sogar ein Buch, obwohl er weiß, dass er es gar nicht lesen werde. Aber das sind die wenigsten, die sich einreihen zwischen dem „Großen Ploetz“, den deutschen Klassikern und der „Unendlichen Geschichte“.
Deutsch und Geschichte hat Hellmuth Inderwies am Schyren-Gymnasium unterrichtet (nicht so sehr gerne sein drittes Fach: Geographie), und er hatte 34 Jahre die Fachbetreuung für das Fach Deutsch inne. Er war noch nicht 30 Jahre alt, als er diese Aufgabe 1970 übernahm: „Nicht, weil ich so ausnehmend gut war“, betont er. Normalerweise sei ein Lehrer schon älter und erfahrener, wenn er mit dieser Funktion betraut werde. Doch er sei damals, als sich das Pfaffen-hofener Gymnasium noch im Aufbau befand, der Einzige gewesen, der wenigstens eine Ahnung von einem curricularen Lehrplan hatte, was bei der 1970 beginnenden Schulreform in Bayern sehr wichtig war. Dies brachte ihn auch als Referent an die Lehrerakademie in Dillingen und einige Jahre an die „Walther von der Vogelweide-Akademie“ nach Bozen, wo er in jungen Jahren junge Südtiroler Lehrer in die Methodik des Deutschunterrichts einführte. Diese Phase am Schyren-Gymnasiums sei aufregend und anstrengend gewesen, aber nicht vergleichbar mit seiner eigenen Schulzeit.
Schul- und Hausaufgaben
auf der Schiefertafel
„Ich bin gebürtiger Franke“, erzählt er, „und ich bin noch in eine einklassige Dorfvolksschule gegangen“. Ein einziger Lehrer hat im oberfränkischen Wohnsgehaig alle acht Jahrgänge unterrichtet, und „wir hatten in den Nachkriegsjahren kein Buch und kein Heft, denn die Bücher mit Hakenkreuz wurden ja von den Amis alle verbrannt!“ Auch Papier war knapp damals: „Die Bamberger Zeitung konnte nur einmal in der Woche erscheinen.“ Mit dem Griffel haben die Schüler allen Lernstoff auf ihre Schiefertafeln geschrieben, alles auswendig gelernt und dann die Tafel abgewischt: „Dann mussten wir nämlich die Hausaufgaben darauf machen!“ Aber Hellmuth Inderwies hat die Aufnahmeprüfung für das Alte Humanistische Gymnasium in Bamberg (heute: Kaiser-Heinrich-Gymnasium) trotzdem geschafft und wurde zugleich Zögling im Fhr. von Aufseß´schen Studienseminar, dem Aufseesianum.
Von den Erinnerungen an die frühe Kindheit ist die an seinen Großvater, einem Mann, der als Landwirt für ihn durch seine Aktivitäten im kulturellen Bereich Vorbild war („Von ihm habe ich wohl etwas musische Begabung geerbt und vielleicht auch ein wenig politischen Weitblick.“) die lebendigste. Der Großvater hatte vorausschauend schon 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, geäußert: „Jetzt hamma den Lumpen, jetzt gibt’s Krieg!“ Sogar „eingebuchtet“ sei er wegen seiner kritischen Ansichten einmal gewesen. Den Vater verlor Hellmuth Inderwies bereits 1944 an der Ostfront, und an den Überbringer der Todesnachricht am Heiligen Abend kann er sich noch sehr gut erinnern. Ein sehr „Linientreuer“ aus dem Dorf reichte seiner Mutter das Telegramm mit den steifen Worten: „Frau Inderwies, Ihr Mann ist tot!“
Die Erziehung im Internat war „knallhart“, die Schulzeit eine Zeit des „Paukens“, die nicht vergleichbar sei mit dem, was Schüler heute in der Schule vorfinden. Das blieb auch so, als er mit seiner Mutter nach der Mittleren Reife in die Landeshauptstadt München zog und von da an das Wittelsbacher Gymnasium besuchte. Neun Jahre Latein und sieben Jahre Griechisch haben ihn geprägt: „Ich war kein guter Lateiner“, sagt er heute, „aber ein guter Grieche!“ Jetzt, im Ruhestand, frische er das Griechische wieder auf. Der „Phaidon“ des Platon liegt auf seinem Schreibtisch, und Hellmuth Inderwies zitiert daraus die letzten Worte des sterbenden Sokrates, der seine Welt noch ins Gleichgewicht bringen wollte: „O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, opfert ihm den und versäumt es ja nicht!“ Fast möchte man denken, mit seinem Einsatz für die Kultur, für den Erhalt der Kultur, möchte er selbst eine imaginäre Schuld begleichen, doch dem ist nicht so: „Wir waren eine büchersüchtige Generation“, beschreibt er seine Schulzeit. Und wenn er regelmäßig in seinen Ferien gearbeitet hat, dann nicht, um sich Luxus zu leisten, sondern um Bücher zu kaufen. Auch Karl May, „den Herrn am Rande der Literatur“, habe er viel gelesen, doch sei er schon früh zu klassischen Werken gekommen. Auch wenn es nicht angenehm war, wenn er in der Schule „von heute auf morgen“ Kleists „Prinz vom Homburg“ lesen und am nächsten Tag eine schriftliche Inhaltsangabe vorlegen musste. Trotzdem spricht er mit Hochachtung von seinen ehemaligen Lehrern! Gerade auch deswegen!
Liebe zum Theater
erwacht mit Don Carlos
„Wenn ich ehrlich sein will“, gesteht er lächelnd, „konnte ich anfangs nicht allzu viel damit anfangen“. Doch das habe sich geändert, als er eine Aufführung von Schillers „Don Carlos“ in den Münchener Kammerspielen gesehen habe. Hier gründet seine Liebe zum Theater, zu dem er später auch seine Schüler im Schyren-Gymnasium hingeführt hat. Er war federführend bei den Aktivitäten des Schulspiels, wobei er 1977 mit dem „Innsbrucker Osterspiel von 1391“ mehr als 1600 Besucher in die Schule lockte. Er hat zudem das Podium für Dichterlesungen 1987 an „seinem“ Gymnasium zusammen mit Frau Irmgard Bernhart, Mitglied des Elternbeirats, gegründet und 15 Jahre organisiert mit Ausstellungen und Begleitheften. Martin Walser bestritt als Autor die Premiere.
Davor aber stand das Studium an der LMU München in den Fächern Geschichte, Deutsch, Erdkunde, Theaterwissenschaften und Zeitungswissenschaften. Schon im ersten Semester hat er seine Frau Helga kennengelernt, die nach Abschluss ihres Studiums als Lehrerin an der Realschule Pfaffenhofen eine Festanstellung erhielt. „Alles dran gesetzt, fast ein bisschen nachgeholfen“ habe er dann, um nach der Referendarzeit ans Pfaffenhofener Gymnasium versetzt zu werden, wo er dann ab 1968 zur „Gründer- und Aufbaumannschaft“ gehörte und ein echter Pfaffenhofener wurde. Eigentlich sollte er an seine alte Schule, an das Wittelsbacher Gymnasium in München, zurückkehren.
Als Jugendtrainer des FSV in die Pflicht genommen
Kaum hatte er 14 Tage hier gewohnt, hat ihn, der selbst immer aktiv Fußball „nicht ohne Erfolg“ gespielt hatte und „dem Sport aufs Engste und mit Leidenschaft“ bis heute verbunden ist, sein Hausherr „in die Pflicht“ genommen: „Und schon habe ich beim FSV die Jugend trainiert!“ Der FSV wurde sein Verein, und Hellmuth Inderwies ist stolz darauf, dass er ihn „als längster 1. Vorsitzender der Vereinsgeschichte“ nämlich 13 Jahre und auch als Vize, nämlich 11 Jahre, führte. Zusammen mit anderen hat er auch das Sportgremium der Stadt gegründet, in dem 31 Sportvereine zusammengefasst sind, und das sich, seit 1991 unter seinem Vorsitz, erfolgreich bemüht, Sport und Politik – und Kultur! – zu koordinieren. Heuer organisiert dieses rührige Gremium die 29. Stadt-Schützen-Meisterschaft und für den letzten Samstag im Juli das 27. Weinfest! Insgesamt steht er nun über 40 Jahre an der Spitze von Vereinen in Pfaffenhofen.
„In die Politik“, bekennt Hellmuth Inderwies, „wollte ich nie, doch meine Vereine haben mich gedrängt“. Denn sie wollten, dass jemand die Interessen des Sports im Stadtrat zusätzlich vertritt, nachdem sein Vorgänger als Sportgremiumsvorsitzender, Franz Kaindl, dessen Stellvertreter er 11 Jahre war, 2. Bürgermeister wurde. Nicht nur die Interessen des Sports vertritt Hellmuth Inderwies seitdem, er übernahm auch gleich „das schwierigste Referat im Stadtrat“, doch „für den, der es gern macht, ist es ein schönes Referat“. Man sieht es an allem, was er, gemeinsam mit seinen Mit-Kultur- oder Kultur-Mit-Referenten und ehemaligen Schülern Reinhard Haiplik und Martin Wolf in der Kreisstadt auf die Beine gestellt hat. Nur mit der Unterstützung quer durch alle Fraktionen waren Veranstaltungen wie die Europäischen Kulturtage möglich, und der Pfaffenhofener Kultursommer, der immer 20 bis 30 Events beinhaltet, ist nicht mehr wegzudenkende Institution in der Stadt geworden. Es gäbe ebenso keine Städtische Galerie im Haus der Begegnung, und vor drei Jahren haben sie im Stadtrat den Beitritt zum „Arbeitskreis Kultur der Bayerischen Städte“ durchgesetzt, wo als nächstes Großprojekt „Kunsträume Bayerns: Kunst im Fluss“ ansteht, das heuer von 41 bayerischen Städten, darunter Pfaffenhofen mit etwa 20 Veranstaltungen, durchgeführt wird.
Gibt’s noch mehr zu tun? „Ja, natürlich“, meint Hellmuth Inderwies. Die räumliche Situation für den Kulturbetrieb müsse verbessert werden. Musikschule und Stadtkapelle müssten vernünftig untergebracht werden. Der Theaterraum im „Haus der Begegnung“ sei bislang nur Notbehelf … Man wundert sich, dass er Zeit gefunden hat, den „Jedermann-Stoff“ wieder aufzugreifen und ein neues Stück mit dem Titel „Jedermann lebt“ zu schreiben. Es wird im nächsten Jahr unter freiem Pfaffenhofener Himmel zur Aufführung kommen: „Mehr wird darüber nicht verraten!“
Reich-Ranicki aus Gummi
und ein Buddha mit Lachsack
Man muss ja nicht alles wissen, denkt sich der Schüler, der „Ehemalige“, man wird es erleben. Sein ehemaliger Lehrer hat ihm immer noch sehr viel zu sagen. Hier, im Arbeitszimmer, zwischen all den Büchern, die sich Rücken an Rücken schmiegen und vom Betrachter gelesen werden wollen, steht auch ein Plastik-Buddha, in dem, wenn man ihn zum Schaukeln bringt, ein Lachsack quietscht. Und was macht ein Gummi-Konterfei von Marcel Reich-Ranicki auf diesem edlen Schreibtisch? Es sind Geschenke von Schülern. Er hat es damals schon geschafft, sie nicht nur zu verblüffen, sondern sie auch auf Gedanken zu bringen und auf Wege zu führen, die nicht zu den alltäglichen gehören.
Es waren also doch Zeiten, damals! Und 35 Jahre, so stellt sich heraus, sind ein Pappenstiel für Lehrer und Schüler, die sich einst sehr gut kennen gelernt haben. Draußen vor der Tür steht eine Eule, eine Metallskulptur, und der Schüler verabschiedet sich respektvoll von ihr. Wahrscheinlich kommt sie aus Griechenland, aus Athen.