von Hellmuth Inderwies
Es war in ihrer aktiven Zeit als Gymnasiallehrer eher ein sehr selten gewähltes Ziel einer Studienreise: Das Ruhrgebiet! Überwog in der Vorstellung doch mitunter das frühere smogbelastete Bild einer schmutzbedeckten Region der Schwerindustrie, in der Kohle und Stahl als existenzielle, aber natur- und kulturfeindliche Wirtschaftsfaktoren einen sehr dicht besiedelten Lebensraum beherrschten. Ein Lebensraum, in dem der Mensch „unter Tage“ der Gefahr des „schwarzen Golds“ der Bergwerke und „über Tage“ dem Moloch ohrenbetäubender Werksmaschinen und der kaum erträglichen Hitze der Hochöfen ausgeliefert war! Umso mehr fand es einhellige Zustimmung, als „Reiseleiter“ Peter Feßl seinen pensionierten Kolleginnen und Kollegen des Schyren-Gymnasiums zusammen mit Ehepartnern und Freunden im Rahmen ihrer jährlichen Ruhestandsexkursionen eine Fahrt in diese einst unumstrittene Wirtschaftsmetropole Deutschlands vorschlug, um sich ein Bild von ihrem Wandel in den letzten Jahrzehnten zu machen.
Wie üblich wurden die wissenshungrigen Touristen bereits auf der Hinfahrt im Omnibus durch Vorträge ihrer Kollegen, mit denen diese entsprechend ihrer jeweiligen fachlichen Qualifikation von der Reiseleitung beauftragt waren, auf die späteren, oft unvermuteten Eindrücke eingestimmt.
Und diese erschienen nachher umso spektakulärer als die Rückblicke in die Vergangenheit die Besetzung des Ruhrgebiets im Jahre 1923, den Kohleabbau und seine Folgen sowie den mühevollen Prozess der Stahlproduktion vor Augen führten. Dem Reiseleiter selbst blieb es vorbehalten, auf der in der Stauferzeit errichteten Burg Münzenberg in der Wetterau gegen den „Burgherrn“, der seine Gäste mit mittelalterlichen Lebensgewohnheiten vertraut machte, den weiteren Weg zum nicht mehr fernen Reiseziel frei zu kämpfen. Ein Glück, dass beim Duell mit dem Kurzschwert keiner der beiden unverzichtbaren Recken auf der Strecke blieb!
Was im Ruhrgebiet nahezu 180 Jahre lang wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Wohlstand garantierte, sollte als Montanindustrie auch nach dem 2. Weltkrieg Gewähr dafür bieten, zumal es sich in Zeiten des Wiederaufbaus Deutschlands als tragendes Fundament bewährte. Und darin lag auch der Grund, warum das Ruhrgebiet trotz der Kohlekrise Ende der 1950er Jahre einen frühzeitigen Strukturwandel zunächst verpasste und allzu lange an der alten Monostruktur von „Kohle und Stahl“ festhielt.
Heute stehen deren Produktionsstätten als Industriedenkmäler in der Landschaft oder hinterließen ein ödes ungenutztes Areal. Der Weg über 99 Stufen hinauf zum Sky-Walk über den Hochofenkomplex von PHOENIX-West dokumentierte dies der Gruppe sehr anschaulich. Landschaftspflege, Bildung und Kultur genossen in der Vergangenheit nicht gerade die Wertschätzung des gesellschaftlichen Lebens, zumal die im Bergbau Beschäftigten zumeist über keine besonderen Qualifikationen verfügen mussten. So dauerte es bis 1962, bis die Region mit der „Ruhr-Universität“ in Bochum überhaupt ihre erste Hochschule erhielt. Im Rahmen eines Vortrags des Dortmunder Stadtplaners Bernd Kötter wurde dies am Erfolgsmodell „dortmund projekt“ besonders transparent. Es dauerte bis zum Jahr 2000, als man hier endlich die Ansiedlung neuer Unternehmen mit den Zukunftsbranchen Mikro- Nano- und Biotechnologie sowie Logistik und Informationstechnik ins Auge fasste und die Metropole Westfalens zu einem wichtigen Hightech-Standort in Europa machte. Zudem wurde auf dem Gelände des ehemaligen Hüttenwerks „PHOENIX“ ein 24 Hektar umfassender See geschaffen, umgeben von Freizeitgelände und hochwertigen Wohnungen. Die Reisegruppe konnte sich von dieser durchaus ansprechenden Raumplanung auf einem entspannten Spaziergang überzeugen.
Der „Zauberlehrling“ avanciert zum Liebling der Kunstfreunde
Weniger entspannt allerdings schien sich vor allem für die eingefleischten „Bayern-Fans“ der Besuch des „Signal Iduna Parks“, der Kultstätte des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund (BVB) zu gestalten, zumal man allzu deutlich an die „total miesen“ Prognosen für das am Tag darauf stattfindende DFB-Pokalendspiel erinnert wurde. Die Führung durch das „Borusseum“ (Museum des Vereins) und das aus Fertigteilen erstellte größte deutsche Stadion verstärkte dieses (letztendlich überflüssige) Unwohlsein in einem Maße, dass selbst die zeitweise Besetzung der Spielerkabine und der Auswechselbank der „Kanariengelben“ keine Erleichterung schaffte. Und nicht einmal die abschließende feuchte Einkehr in der BVB-Kneipe konnte dieses Unwohlsein ein wenig lindern. Man musste sich einfach damit abfinden: „Sogar in Sachen Selbstüberschätzung sind diese ‚Preissn’ den Bayern scheinbar haushoch überlegen!“
Während die ewigen Rivalen BVB und FC Gelsenkirchen-Schalke 04 bereits über ein Jahrhundert im Ruhrpott die „Alte Mitte“ zwischen Fußball und sozialem Prestige verkörpern, so bilden in der 2012 am höchsten verschuldeten Stadt dieser Region, nämlich Oberhausen, derzeit Kunst und Kommerz die „Neue Mitte“. Damit bezeichnet man das heutige Zentrum der Stadt, das früher mit der Gutenhoffnungshütte ausschließlich industrielle Funktion besaß und nun zum Kultur-, Einkaufs- und Freizeitzentrum (mit einträchtigen nachbarlichen Shops des BVB und des FC Bayern) umgewandelt wurde. Das Ende der alten wirtschaftlichen Monostruktur führte freilich wie auch andernorts zu einem eklatanten Defizit an Arbeitsplätzen. Es auf diesem Weg ausgleichen zu können, ist derzeit noch eine schöne Vision, selbst wenn das CentrO mit seinen 830 000 m² das lebendige Herz der Stadt geworden ist.
Doch auch in ihrem neuen Wahrzeichen, dem Gasometer, der als Industriedenkmal zur höchsten Ausstellungshalle Europas umgebaut wurde, sieht man als Attraktion für den Tourismus einen Hoffnungsträger. Es ist zu wünschen, dass es nicht nur „Der schöne Schein“ bleibt, wie die zur Zeit beeindruckende Präsentation von überdimensionalen Kopien bildender Kunst großer abendländisch-europäischer Meister betitelt ist. Kunst bildet allenthalben im Ruhrgebiet auch im Außenbereich, so z. B. als Kunstmarken auf den Abraumhalden des Bergbaus, heute eine signifikante Rolle. Auf Oberhausener Stadtgebiet avancierte eine 35 Meter hohe und über 10 Tonnen schwere Stahlskulptur mit dem Namen „Zauberlehrling“ zum Liebling der Kunstfreunde schlechthin.
Wer das Ruhrgebiet nur in altem Erscheinungsbild kennt, glaubt sich verirrt zu haben, wenn er heute dorthin reist. Ihn überrascht das satte Grün einer Naturlandschaft, die vor geraumer Zeit als „Ruhrpott“, in volkstümlicher Version als „Toilette für entzündliche Darmerkrankungen“, gegolten hat. Noch ist freilich die industrielle Verseuchung der Natur nicht gänzlich behoben. Auch wenn die frühere Kloake dieser Industrieregion, die Emscher, in ihrem Mündungslauf heute allein vom Regen gespeist wird und klares, mit Sauerstoff angereichertes Wasser führt, so fordert ihr Mittel- und Unterlauf doch noch langjährige Anstrengungen, um sie gänzlich zu entgiften. Zu viele in Betonrinnen eingebettete Bäche und Nebenflüsse in ihrem Einzugsgebiet dienen noch als Abwässerkanäle vorweg privater Nutzung. Eine nachhaltige Renaturierung aber setzt ein zentrales Abwasserklärsystem voraus und damit den Bau unterirdischer Kanäle und Speicherbecken. Ein Pfaffenhofener, der Sohn des mitgereisten Gymnasiallehrers Walter Aigner, ist hieran entscheidend beteiligt. Er unterrichtete die Gruppe ausführlich über Investitionsvolumen (4,5 Mrd. €), Procedere und Problematik solcher Pionierarbeit, die im Jahr 2020 abgeschlossen sein soll.
Eine Fahrt mit der unter Denkmalschutz stehenden Wuppertaler Schwebebahn und den ohrenbetäubenden Lärm beim Besuch der Musicalaufführung von „Starlight-Express“ in Bochum nahm die Gruppe als letzte, aber wohl nicht bleibende Eindrücke mit auf die Heimreise. Eher schon das Motto der Ruhrtriennale, jenes Kunstfestivals in den einstigen Industriestätten: „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel!“