Als Kreativquartier fungiert seit kurzem die „Alte Kämmerei“ in der
Frauenstraße. Lorenz Trapp besuchte
die Papierrestauratorin Arlett Seidel
Eines möchte sie sofort richtig stellen: Auch wenn ein altes Buch, zerlesen, zerfleddert oder extrem beschädigt, in ihrer Werkstatt landet, ist es willkommen, wie ein König in seinem Reich. Dennoch: Sie weiß nicht, warum sie, auch unter ihren Kollegen, ihren Mitwerkern in der „Alten Kämmerei“ an der Frauenstraße, als Buchrestauratorin gilt. „Das Buch“, sagt Arlett Seidel, „ist nur ein kleiner Teil des großen Bereichs, in dem ich tätig bin“.
An der Wand in ihrer Werkstatt hängt ein großformatiges Foto, das die viele Jahrhunderte alte Gründungsurkunde einer Stadt zeigt. Für das neue Museum dieser Stadt fertigt Arlett Seidel ein Faksimile dieser Urkunde an, da das Original als Exponat für eine Ausstellung nicht mehr geeignet ist. Ihre Nachbildung aber wird genau so aussehen. Auch das also gehört zur Tätigkeit der Diplom-Restauratorin, selbst wenn es nicht dem entspricht, was sich der Normalbürger landläufig unter Restauration vorstellt. Restauration? „Ich muss immer schmunzeln, wenn ich das höre“, korrigiert Arlett Seidel, „denn Restauration gehört praktisch in den Restaurant-Bereich, ist eigentlich das Wiederherrichten des Menschen“. Was sie macht, heißt korrekt „Restaurierung“, und nicht unwesentlich ist dabei auch die Konservierung alter Objekte und Materialien.
Ihr Material ist Papier, Papier im weitesten Sinne: Arlett Seidel arbeitet sehr viel mit Tapeten. Tapeten werden seit dem 16. Jahrhundert verwendet, und zum Glück für die Restauratoren gibt es immer mehr Menschen, die alte Häuser nicht einfach abreißen lassen, sondern einen Fachmann hinzuziehen. „Manchmal entdecken wir dann zehn Schichten übereinander, die von Barock über Biedermeier bis heute Einblicke gewähren in die Entwicklung der Papierherstellung und der Technik des Druckens“, erläutert sie, und mittlerweile werden diese Tapeten als hervorragende Zeugnisse der Kunstgeschichte erkannt und gesammelt und erhalten – aus demselben Grund wie alte Gemälde oder Fotografien. Die Forschung an der Materie und am Inhalt, an der geistigen Aussage des Objekts, sei für manche Restauratoren eigentlich die vornehmste Aufgabe ihres Berufs.
Neben Tapeten – Arlett Seidel nennt sie „Mode für die Wand“ – bearbeitet sie auch Grafiken, also Zeichnungen und Drucke auf Papier, sowie Archivalien: Alles, was sich in Archiven befindet – Zeitungen, Photographien, Zeichnungen, Plakate, Architekturpläne, Pergamenturkunden –, ist eine Fundgrube für die wissensdurstige Restauratorin: „Und natürlich Bücher!“ Dazu kommen kunsthandwerkliche Objekte, und diese bestehen hauptsächlich aus organischen Materialien wie Leder oder Wachs. „Im Grunde“, definiert Arlett Seidel mit einem ironischen Lächeln, „alles, was dreidimensional ist – aber kein Buch!“
Feiner Pinsel und Fingerspitzengefühl: Ein Wachsanhänger wird präpariert,
und das Werkzeug wartet geduldig.
Definitiv kein Buch ist der Musikkoffer aus dem 18. Jahrhundert, über den sie ins Schwärmen gerät: „Aus Holz, mit Verbindungen aus Leder, innen ausgekleidet mit dunkelrotem Seiden-Damast, die Beschläge aus feuervergoldetem Eisen … ein Konglomerat verschiedener Materialgruppen und Anforderungen, die das Herz einer Restauratorin höher schlagen lassen!“ Um so ein Objekt zu konservieren und zu restaurieren, braucht sie nicht nur handwerkliche Fertigkeiten, auch umfangreiche chemische, naturwissenschaftliche Kenntnisse sind vonnöten: Mit welchen Stoffen hat sie es eigentlich zu tun? Und: Wie und wo ist das Objekt kunstgeschichtlich einzuordnen?
Ihre Auftraggeber sind öffentliche Institutionen wie Museen, Archive oder Bibliotheken, und Privatpersonen wie Sammler, Antiquitätenhändler oder Kunstsinnige, die Erbschaften machen und erhalten wollen. Arlett Seidel unterscheidet zwei Arten der Restaurierung: „Kommt das Objekt in die Vitrine oder will ich es benutzen?“ Für ein Ausstellungsobjekt kann sie mit wenig Aufwand viel erreichen, soll das Objekt jedoch wieder oder weiter benutzt werden können, erfordert dies weitaus größeren Einsatz. Doch so lautet ja ihr restauratorischer Grundsatz, ihr ethischer Auftrag: „So viel wie nötig und so wenig wie möglich“. Eine Menge Begeisterung und Leidenschaft – Arlett Seidel ist der Beweis dafür – gehört unabdingbar ebenfalls dazu.
Unten: Vorher und nachher: Umfangreiche handwerkliche Fertigkeiten und Kenntnisse über die Beschaffenheit der Materialien sind bei Konservierung und Restaurierung unabdingbar
Rest.papier
arlett.seidel@gmx.de
Frauenstr. 34 / EG
Öffnungszeiten:
Do. / Fr. 10 – 18 Uhr