Maßnahmen gegen Gewalt Zunehmende Brutalität in der Gesellschaft wirft eine Vielfalt von Fragen auf

von Hellmuth Inderwies
Kulturreferent der Stadt Pfaffenhofen

Bert Brechts allenthalben bekannte Parabel „Maßnahmen gegen die Gewalt“, die in den Schulen bislang zur Standardlektüre zählte, ist ganz offensichtlich zu einer geschichtlichen Klamotte geworden. Die Zeiten, in denen der Bürger gezwungen war, sich zum Schutz vor gewaltsamer Vereinnahmung durch herrschaftlichen Zwang mit persönlicher „Klugheit“ zu schützen oder mit duldsamer Anpassung zu überleben, scheinen sich heute umgekehrt zu haben. Eine mehr und mehr zunehmende Brutalität innerhalb der Gesellschaft bringt die staatliche Obrigkeit gegenwärtig in nicht geringe Verlegenheit wie es nach den vier Münchener U-Bahnattacken, die während und nach den weihnachtlichen Feiertagen verübt wurden, der Fall ist. Die derzeit von Vertretern legislativer, exekutiver und juristischer Gewalt sehr gegensätzlich geführte Diskussion, welche Maßnahmen gegen die sich häufenden massiven Straftaten vorweg Jugendlicher zu ergreifen seien, sind ein deutlicher Beweis hierfür.

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Etikettenschwindel und
ideologische Falschdarstellung

Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz und die Sicherheit von Leben und Eigentum seiner Bürger gehört zu den obersten Pflichten eines demokratischen Staatswesens. Dass dies in einer plu-ralistischen und multikulturellen Gesellschaft nicht immer einfach ist, steht außer Zweifel. Erschwert wird diese Aufgabe durch eine wenig homogene Sozialstruktur, in der vor allem materieller Wohlstand und Ansehen als wichtigste Parameter eine zentrale Rolle spielen. Trotzdem muss sich jeder Bürger unbehelligt in der Öffentlichkeit bewegen können, ohne dass ihn die Angst begleitet, er könne unversehens überfallen und zusammengetreten werden, nur weil er andere mit Recht auf ein Verbot hinweist oder weil er sich durch extrem laute Musik gestört fühlt und darauf aufmerksam macht. Mitunter wird Gewalt auch ohne irgendeinen ersichtlichen Anlass aus reiner Willkür gegenüber zumeist schwächeren Personen ausgeübt. Gleiches gilt für die Beschädigung oder Zerstörung fremden Eigentums. Nicht nur im großstädtischen Milieu sondern auch in ländlichen Regionen häufen sich gegenwärtig derartige Vorfälle.

Bei einem Teil jener Jahrgänge, die vor geraumer Zeit in den Schulen die „Mobbing-Ära“ eingeläutet haben, sind erzieherische Maßnahmen offensichtlich ohne Wirkung geblieben. „Klamottendemütigungen und Klamottenneid“ scheinen mit vorgerücktem Alter und oft (aber nicht durchwegs) schwierigen sozialen Verhältnissen eine Steigerung zu erfahren und teilweise zu eskalieren. Und es sind dabei neben nicht integrierten jugendlichen Migranten ebenso halbwüchsige Deutsche, die Gewaltbereitschaft an den Tag legen. Das sollte jeder ins Kalkül ziehen, der ernsthaft nach den Ursachen forscht. Dabei ist es freilich gleichermaßen verfehlt, im Wesentlichen nur einen Sündenbock ins Auge zu fassen und die Schuld wiederum nur auf eine Institution des gesamten Erziehungs- und Bildungswesens abzuladen, wie es der niedersächsische Kriminologe und Experte für Jugendstrafrecht Christian Pfeiffer versucht. Mit Blick auf die Münchener Vorfälle fasst er lediglich die Situation türkischer Schüler ins Auge und glaubt im Schulsystem die Hauptursache für Gewalt zu erkennen.

Er verweist darauf, dass sich in der bayerischen Zentrale die Zahl der Mehrfachtäter in sieben Jahren verdoppelt habe, während man sie in Hannover halbieren konnte, weil dort die Hälfte der türkischen Jugendlichen die Realschule, die hier Regelschule sei, besucht, während in München eben diese Hälfte sich mit der Hauptschule begnügen müsse. Bei solchem Etikettenschwindel werden die Anteile der Nationalitäten in einzelnen Jahrgangsstufen, die Qualität des Schulsystems (Auf einen Vergleich der PISA-Ergebnisse beider Bundesländer soll hier verzichtet werden!) und damit eine auf die Realität des Berufslebens vorbereitende Ausbildung und die spätere Leistungsfähigkeit für die Gesellschaft gänzlich außer Acht gelassen. Papier ist geduldig. Auch dann, wenn es um die Prozentzahlen und die Art von Schulabschlüssen geht!

Das Gewaltproblem wird zu wenig differenziert betrachtet
Eine solche Erklärung ist so oberflächlich wie viele der im Augenblick in hektischer Eile in die Diskussion geworfenen Vorschläge zur Behebung derartiger gesellschaftlicher Missstände: Manche sehen sie, wie der deutsche Richterbund, als instrumentalisiertes Manöver der bevorstehenden Wahlen und halten sie deshalb für gänzlich überflüssig. Den Einfallslosen genügt die volle Ausschöpfung der vorhandenen rechtlichen Mittel oder deren Verschärfung zwecks höherer Abschreckung. Arrest bzw. kurzfristige Bekanntschaft mit dem Strafvollzug könnten zudem dienlich sein, – bei ausländischen Ju-gendlichen nach Gefängnisstrafen von einem Jahr ohne Bewährung die Ausweisung! Handy- und Führerscheinverbot sowie die Verschärfung des Waffenrechts und so manch anderes kurzfristiges Allheilmittel stehen zur Debatte.

Das alles ist möglich und anwendbar. Damit sind aber gewiss nur die Symptome einer Krankheit zu bekämpfen, nicht die Ursachen. Die größte Wirkung erscheint da noch die in Nordrhein-Westfalen geplante Einrichtung von Erziehungscamps zu versprechen, in denen jugendliche Täter über Arbeit, Sport und strenge Einhaltung einer Hausordnung Verhaltensweisen üben und sich so neu orientieren können, um einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Die in Bayern ins Auge gefassten geschlossenen Erziehungsinternate gehen in die gleiche Richtung: Wiederherstellung und Anerkennung von Autorität ist vordringliches Lernziel. Man will hierbei jedoch keinesfalls US-amerikanischem Vorbild folgen und mit Drillmethoden lediglich disziplinieren. Aber auch ein solches Projekt ist nur ein „posthumer“ Schritt, wenn das Kind bereits ins Wasser gefallen ist und der Heilung bedarf. Um Krankheiten erst gar nicht auftreten zu lassen, sind erfahrungsgemäß präventive Maßnahmen das allein wirksame Rezept.

Neu: Prävention durch Findung
eines intakten Wertesystems

Solche setzen aber eines unabdingbar voraus, was unserer Gesellschaft weitgehend abhanden gekommen ist, nämlich die Orientierungsbojen eines allgemein anerkannten und gelebten Wertesystems, das nicht nur auf rationaler Zweckmäßigkeit basiert, sondern auch auf der Fähigkeit mit dem Anderen mitzufühlen und ihn zu achten. Sein Verfall ist nicht die Folge eines über uns plötzlich hereingebrochenen Naturereignisses, sondern zurückzuführen auf einen allmählichen Prozess, der mit jener „nachgeholten“ Revolution der „68er“-Generation begonnen hat. Ihr damals durchaus wichtiger Impuls für eine gesellschaftliche Reform, die auf Grund eines Kampfes um das nackte Überleben 1945, also unmittelbar nach Kriegsende, nicht erfolgen konnte und nachher viel zu lange verschleppt wurde, artete in einer Verunglimpfung und Zerstörung alter Werte aus. Man hatte vergessen, dass es vor jener verderblichen Hitlerdiktatur auch eine deutsche Geschichte gab, schüttete das Kind mit dem Bade aus und war nicht imstande, sich an alte, historisch gewachsene Wertvorstellungen zu erinnern und sie zu erneuern bzw. neue Wertnormen zu setzen. Der vermeintliche Befreiungsschlag von Überkommenem war nicht ein Akt der Befreiung, sondern entpuppte sich als ungezügelte zerstörerische Willkür. Selbstverständlich trug dazu auch wesentlich ein einseitig auf materielle Güter ausgerichtetes Streben bei, das in der Wirtschaftswunderzeit einen Höhepunkt erreichte und seither in unserem Denken als das vermeintliche Lebenselixier fest verankert ist.

Vorbild sein in der Migration
mit christlichen Grundwerten

Die hernach immer wieder entfachte Wertediskussion bleibt bis heute weitgehend an der Oberfläche, weil sie zumeist von allzu hehren ab-strakten Idealvorstellungen ausgeht, wenn betont wird, dass sich „die Gesellschaft ihrer Kultur und Zivilisation neu versichern müsse“ (Christine Schirrmacher) und Sinn und Zielsetzung des Lebens oft nur „existenziell“ hinterfragt werden. Die Umsetzung von Wertnormen beginnt jedoch bereits bei ganz einfachen, praktikablen Gesten, wie „einen Mitmenschen grüßen, ihm die Türe halten, wenn er einen Raum betritt, einem Anderen einen Platz anbieten, einen alten Menschen über die Straße führen, sich auch für einen kleinen Lapsus entschuldigen, jemanden ein Dankeschön sagen“ usw. usw. Sehr früh und beständig müssen solche Umgangsformen geübt werden, damit sie Kinder verinnerlichen.

Sie gehören unabdingbar und primär zur Erziehung in einem Elternhaus, das sich als intakt bezeichnen möchte, und hernach gleichermaßen zu den Basislernzielen schulischer und beruflicher Ausbildung. Noch vor der heute zur Mode gewordenen, oft sehr teueren und wenig nützlichen technokratischen Umorganisation des Erziehungswesens oder jener augenblicklich diskutierten Vorgehensweisen, mit denen man jugendliche Gewalttaten einzudämmen sucht, ist die frühzeitige Erziehung zur Wertschätzung des Mitmenschen primäre Voraussetzung dafür, dass unsere Gesellschaft wieder ein wenig ihren weit verbreiteten Narzissmus und die gewohnte Ellenbogenmentalität zurücknimmt und zu jener Toleranz und jenem Mitgefühl für den Andern findet, die als wirksamste Maßnahmen gegen die Gewalt betrachtet werden müssen. Nur das, was wir selbst vorleben, dürfen wir zu Recht von unseren Mitmenschen erwarten. Und dazu gehören auch die, die als Migranten bei uns ein Zuhause suchen. Denn das Integrationsvermögen, das wir bei ihnen voraussetzen, kann sich gewiss nur mit unserer Mithilfe vollends entfalten.