Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Ein besonderes Schmankerl für alle Cineasten: Die Filmrezensionen zu vier Streifen, die im Rahmen des städtischen Kultursommers 2007 im CineradoPlex gezeigt werden, lesen Sie hier:

kultursommer

Die Metzgers Tochter Mélanie Prouvost ist eine talentierte Klavierspielerin und wünscht sich eine Karriere als Pianistin. Beim Vorspiel in einem Musik-Konservatorium wird sie jedoch von der berühmten Konzertpianistin und Jury-Mitglied Ariane Fouchecourt aus dem Konzept gebracht und schafft so nicht die Aufnahmeprüfung. Das Mädchen spielt nie wieder Klavier. Jahre später jedoch eröffnet sich für die inzwischen sehr introvertierte Mélanie die Gelegenheit, sich an Ariane zu rächen.
Durch die ruhige Mélanie, die die meiste Zeit des Filmes schweigt und kühl und berechnend beobachtet, schafft Denis Dercourt eine intensive und intime Spannung, die am Schluss des Filmes mit einem Schlag entladen wird und der sich sowohl Zuschauer, als auch die Pianistin Ariane nicht enziehen können. Es ist ein ruhiger Film, der vor allem auf die ausdrucksstarken Aufnahmen setzt. Der Ressigeur kreierte mit dem Rachefeldzug der Mélanie einen gelungenen, sehr französischen Arthouse-Thriller, der besonders Musiker und Musikfans anspricht.

von Julia Mähner

Winterreise

kultursommer1

Franz Brenninger(Josef Bierbichler) ist ein launischer Grantler. Sein Gebrauch des Wortes Arschloch verhält sich indirekt proportional zur Situation seines kleinen Unternehmens, dessen nahende Insolvenz ihn in tiefe Depressionen stürzt. Als ein riskantes Geschäft mit dubiosen Kenianern zu platzen droht und er sich mit seiner Frau (Hanna Schygulla) und seinen Kindern überwirft, versucht der in die Jahre gekommene Haudegen Brenninger in Nairobi das Ruder herumzureißen.

Der Regisseur Hans Steinbichler schafft es, ohne viel Worte und erhobenen Zeigefinger, den Leidensweg einer schweren Depression mit ihren tiefen Abgründen und selten Lichtblicken, intensiv zu inszenieren. Imposante Landschaftsbilder fungieren ebenso als diffuser Spiegel der kontrastreichen, menschlichen Gefühlswelt, wie die Interpretation einzelner Kunstlieder aus dem Zyklus „Winterreise“ von Franz Schubert. Dichte Atmosphäre ohne hochaufwendige Filmeffekte und große Emotionen, ohne platt arrangierten Filmkuss, dafür grandiose Darstellung lebensnaher Situationen durch den brillanten Josef Bierbichler zeigen, dass der Deutsche Film viel mehr kann, als die Massenproduktion qualitativ durchwachsener Komödien.

von Michael Werner

Golden Door

kultursommer2

Anfang des 20. Jahrhunderts beschließt der sizilianische Bauer Salvatore, von irrationalen Sehnsüchten und Träumen getrieben, in die USA auszuwandern. Die Überfahrt gerät zur Tortur für die Emigranten: Beklemmende Enge, Schmutz, Seegang und die Ungewissheit zehren an den Nerven. In der verheißungsvollen ‚Neuen Welt’ angekommen, erwartet die Neuankömmlinge aber erst einmal die bürokratische und willkürliche Einreiseprozedur, die nicht alle Familienmitglieder bestehen.
‚Golden Door’ ist ein vielfach prämierter Film, der unter anderem den ‚Silbernen Löwen’ bei den Filmfestspielen in Venedig und den Preis der ‚Semaine de la Critique’ in Cannes gewinnen konnte. Emanuele Crialese ist es gelungen, ein atmosphärisch extrem dichtes Werk zu schaffen, das mit seinen Andeutungen und surrealistischen Einschüben den Zuschauer geradezu in die Metaebene hineinzwingt. Wer hier nicht bereit ist, selbst mitzudenken und seine Fantasie zu benutzen, sollte vielleicht lieber auf ‚Die Hard 4’ ausweichen; für alle anderen ist der Film ein Hochgenuss.

von Oliver Hübel

Nach der Hochzeit

kultursommer3

Susanne Biers neuer Film ist ein typisch dänisches Familienmelodram. Zu typisch vielleicht, werden Kenner des dänischen Kinos, insbesondere seit DOGMA, einwerfen. Anders Thomas Jensens Drehbuch bietet in routiniert handwerklichem Geschick Altbekanntes: Eine dänische Familie wird kräftig durchgerüttelt, als zur Hochzeit der ältesten Tochter ihr verloren geglaubter wahrer Vater auftaucht. Zunächst scheint alles nur ein Zufall zu sein, doch nach und nach wird klar, dass der Stiefvater ihn zu einem bestimmten Zweck zurückgeholt hat. Die Beziehung zu ihren Eltern und die junge Ehe der Tochter werden dadurch auf die Probe gestellt.

In gewohnt präziser Darstellung und intimer Nähe zu den Charakteren legt die DOGMA-Regisseurin alle Hintergründe des Familiendramas frei, um den 2-Stunden-Film in ein intensives, tragisches Ende münden zu lassen. So werden viele gesellschaftliche Themen behandelt, wie etwa die sogenannten Patchwork-Familien, die fast schon altmodisch gewordene ehelich-familiäre Verantwortung oder der Umgang mit dem Tod eines geliebten Menschen. Sogar der Themenkomplex um Wohlstand und soziales Engagement wird angerissen. Man kann dem Film vorwerfen, dass er zuviel auf einmal will und deshalb mitunter übertreibt. Einige Handlungselemente hätten für sich stehen können und wurden schon viel besser in Susanne Biers Vorgängerwerken („Open Hearts“ und „Brothers“, wie auch in anderen dänischen Filmjuwelen („Das Fest“ behandelt.

Trotzdem ist „Nach der Hochzeit“ weit davon entfernt, ein schlechter Film zu sein. Wunderbare Schauspieler, darunter Wallander-Darsteller Rolf Lassgard, stellen eine glaubwürdige und mitreißende Leistung zur Schau; die Inszenierung findet immer den richtigen Ton zwischen Momenten der Stille und dialoglastigen Kammerspielsequenzen; die Kameraarbeit verdeutlicht, dass die DOGMA-Phase zwar vorbei, deren Einfluss aber ungebrochen vorhanden ist.

Alles in Allem ist Susanne Bier und dem dänischen Drehbuch-Wunderkind Anders Thomas Jensen ein ernstzunehmendes Melodram weit jenseits des unsäglichen TV- oder „Großes Gefühlskino“-Niveaus gelungen. Lediglich Kenner werden bedauern, dass die gleichen Macher schon besser waren.

von Stefan Nimmrichter