Bleiziffers europäische Welt / Roland Scheerer debütiert mit einem Roman zwischen Selbstironie und Detailverliebtheit

von Lorenz Trapp

Ein Debüt zeigt sich stets als die Spitze eines Messers, das über der dunklen, undurchdringlichen Oberfläche eines Sees erst mal nicht mehr von sich preiszugeben bereit ist. Hiermit bleibt so offen wie im Verborgenen, ob die Spitze alles ist oder ob ein scharfes Messer auch in Zukunft wohlkomponierbare Buchstaben aus dem Wörter-See schneiden wird.
„Die Welt ohne Bleiziffer“ betitelt Roland Scheerer seinen ersten Roman, und wer bei Blei und Ziffer an ein mittlerweile veraltetes Verfahren zur Erstellung gedruckter Wörter auf Papier denkt, wird schon von den ersten Zeilen des knapp 200 Seiten umfassenden Werks eines Besseren belehrt: Bleiziffer ist Marcus Bleiziffer, der Freund des Ich-Erzählers Kordian, und wird zum Schattenkrieger des Autors: „Marcus war cool, bei weitem cooler als ich“, konstatiert Kordian, und Bleiziffer war dies nicht nur, weil er, als Zuständiger für die Geräuschproduktion bei der Hörspielfassung von „Biedermann und die Brandstifter“, mittels China-Böller zwar die Explosionen des Gasometers perfekt inszenierte, gleichzeitig aber auch mittels Teppich einen Brand in der Schule auslöste.

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Zwei Knaben bewegen sich auf ihren Lebenswegen quer durch Europa und die 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts ins Erwachsenenalter, zwei parallelen Geraden gleich, die sich bereits in der Endlichkeit der Gegenwart immer wieder schneiden müssen. Als Grundschüler schließen sie 1981 während eines Istrienurlaubs eine Freundschaft, die sich in der heimischen Hallertau fortsetzt. Mit Liebe zum Detail bewegt sich Roland Scheerer gewandt in heimatlichen Gefilden, Geisenfeld, Pfaffenhofen, gar Parleiten und Rottenegg werden zu Schauplätzen von bisweilen verführerisch ins Absurde gleitenden Szenen einer Kinderzeit. Wer erinnerte sich nicht gerne an die kindliche Teilnahme an einem Totenritual für einen Wellensittich namens Captain Future, der, während der Fußball-WM ’82, als Jean-Marie Pfaff im spanischen Elche das Tor der Belgier hütete, vom Stangerl gefallen, Oleg Blochin in Form eines Panini-Bildchens als Grabbeigabe im Pappkarton erhält? Jahre später begegnen sich die beiden Freunde als Gymnasiasten wieder; nun wollen sie im Lüftungssystem der Schule einen mystisch-subversiven Literaturzirkel etablieren, um Mädchen anzulocken.

Die Wege trennen sich während des Studiums in Regensburg erneut. Bleiziffer verschlägt es nach einer gescheiterten Liebe erneut nach Istrien, wo er an der Reparatur eines Bootes arbeitet, Kordian erprobt mehr oder weniger erfolgreich die Liebe zu Zeiten der Studentenstreiks an bayerischen Hochschulen und bricht dann zur Reise nach Polen auf: Die Suche nach zurückgelassenen Bücher von Vertriebenen. Die persönlichen Entwicklungen der beiden Protagonisten entfalten sich vor dem Hintergrund geschichtlicher Ereignisse, die Roland Scheerer durch geschicktes Zusammenfügen prägender Mosaiksteinchen lebendig werden lässt. In den leichtem Erzählton mit Erwägungen, deren Tiefsinnigkeit, humorvoll und satirisch, dem jeweiligen Alter der Freunde geschuldet ist, fügen sich perfekt platziert selbstironische, lyrische Metaphern: „Die bürgerliche Definition von Liebe hing über dem Land wie das Spinnennetz der Bahn über einem niederbayerischen Provinzbahnhof.“

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Roland Scheerer, Jahrgang 1974, passend zum Leben von Kordian, ist Lehrer am Schyren-Gymnasium. Seine literarischen Wurzeln finden sich in der Lyrik. Und wie er in den „Ilm-Tagebüchern“ seine Gedichte unter Angabe des Längen- und Breitengrades punktgenau verortet, vermisst er „Die Welt ohne Bleiziffer“ in über Europa verteilten Quadranten – eine schelmische Quadratur des Punktes quasi, ein Debüt, das Lust auf den verborgenen Rest der Messerspitze macht.
P.S.: Roland Scheerer liest am 18. Dezember 2013 im Rathaussaal Pfaffenhofen aus seinem Roman „Die Welt ohne Bleiziffer“ (Lichtung Verlag). Moderiert wird die Lesung von Knut Cordsen, Kultur-Redakteur beim Bayrischen Rundfunk.