von Hellmuth Inderwies
Wer in Zeiten, in denen der Mensch das Schlagwort „Veränderung“ zum Lebensmotto gemacht hat, von vornherein befristete Übergangsregelungen als schnellste Opfer des Wandels sieht, der kann sich bisweilen gewaltig täuschen. Das französische Sprichwort, dass nichts zählebiger ist als ein Provisorium, erfährt zumindest am Beispiel des am 23. Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland eine nicht von der Hand zu weisende Bestätigung. Dabei hat diese ursprüngliche deutsche „Behelfsverfassung auf Zeit“ in den 60 Jahren ihres Bestehens in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft ihre Bewährungsproben glänzend bestanden und mit der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands ihre hohe Wertstellung vollends bestätigt erhalten, als die erste demokratisch gewählte Volkskammer der DDR mit ihrer letzten Entscheidung am 23. August 1990 den Beitritt zur Bundesrepublik, zum Geltungsbereich des Grundgesetzes im Sinne des Art. 23, erklärte und sich danach auflöste. Bis zu diesem Zeitpunkt freilich hatte diese gesetzliche Übergangslösung schon ganz erheblich dazu beigetragen, einem verirrten und nach dem Kriege am Boden liegenden deutschen Volk eine lebenswerte Richtung zu weisen und seinem Ansehen in der Welt allmählich wieder Geltung zu verschaffen.
Schlusslesung des Grundgesetzes 1949
Provisorium freilich war sie über 40 Jahre nur insofern, als sie sich nicht „Verfassung“ nennen durfte, um dem nach dem Zweiten Weltkrieg gespaltenen und zwei gegensätzlichen ideologischen Blöcken angehörenden Deutschland die Chance einer Wiedervereinigung zu erhalten. Dies war auch die große Sorge ihrer „4 Mütter (darunter Elisabeth Selbert von der SPD, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau durchsetzte) und 66 Väter“, die, von den Landtagen gewählt, am 1. September 1948 in Bonn zusammenkamen, um gemeinsame Richtlinien für die „Verwaltung der westlichen Besatzungszonen“ auszuarbeiten. Sie lehnten, wie zuvor schon die 11 Ministerpräsidenten der Länder in den so genannten „Koblenzer Beschlüssen“ vom 10. Juli 1948, eine von den Militärgouverneuren der Besatzungsmächte geforderte „Verfassung“ ebenso ab wie deren Ratifizierung durch einen Volksentscheid.
Eine konstituierende Nationalversammlung könne erst einberufen werden, so die Begründung, wenn die drei westlichen Besatzungszonen mit der sowjetischen vereinigt seien. Und sie lehnten es auch ab, sich als „verfassungsgebende Versammlung“ zu bezeichnen, wie es die Alliierten in den „Frankfurter Dokumenten“, den Empfehlungen zur Gründung eines westdeutschen Staats vom 1. Juli 1948, gefordert hatten, sondern nannten sich im Sinne einer Demokratisierung Deutschlands „Parlamentarischer Rat“. In ihm befanden sich 65 stimmberechtigte Abgeordnete der westlichen Besatzungsländer (SPD 27 – CDU/CSU 27 – FDP 5 – Zentrum, DP, KPD je 2) sowie fünf lediglich beratende aus Berlin, die wegen des Viermächtestatus der Stadt kein Stimmrecht besaßen. Der älteste unter ihnen, Adolf Schönfelder (Alterspräsident und 1. Vizepräsident, SPD) stand im 75. Lebensjahr, der jüngste, Kaspar Seibold (CSU, Landwirt aus Lenggries), zählte noch nicht ganz 35 Jahre. Das Durchschnittsalter des Gremiums von 55 Jahren ist Beweis dafür, dass gerade ältere und erfahrene Menschen in hohem Maße zukunftsgerichtet zu denken und zu handeln vermögen. Der damals schon 73jährige spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) wurde zum Präsidenten gewählt, während im wichtigen Hauptausschuss Carlo Schmid (SPD) den Vorsitz innehatte.
Wenn bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes fast neun Monate intensivster und oft sehr mühsamer Arbeit vergingen, so deutet dies darauf hin, dass trotz des ermutigenden Appells des englischen Militärgouverneurs, General Sir Brian Robertson, im Rahmen der Beratungen des Besatzungsstatuts („Die beste Lösung des deutschen Problems ist, den Deutschen die Möglichkeit zu geben, ihr Land in Freiheit selbst aufzubauen.“) und umfangreicher Vorarbeiten von 48 Sachverständigen auf Herrenchiemsee („Herrenchiemseer Konvent“), eine Vielzahl von Problemen zu bewältigen waren.
Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, unterzeichnet das Grundgesetz
Nach Verabschiedung des GG
noch lange nicht souverän
Da war zum einen den ständigen Einwänden der Alliierten zu begegnen, die befürchteten, dass durch einen überbetonten Zentralismus Deutschland wieder zu mächtig werden könne. Der französische Außenminister Robert Schumann wollte lange Zeit dem Nachbarn auf Grund der Erfahrungen seines Volks in den beiden Weltkriegen die Gesamtstaatlichkeit gänzlich vorenthalten. Eine zu einflussreich konzipierte Bundesfinanzverwaltung gab den Militärgouverneuren Anlass, in einem Memorandum darauf hinzuweisen, dass sie bei zu geringer föderalistischer Ausrichtung das Grundgesetz im Sinne der „Frankfurter Dokumente“ ablehnen müssten. Die zu umfangreichen Befugnisse der künftigen Bundesregierung und der Exekutive schlechthin, auch die Beibehaltung des Berufsbeamtentums, veranlassten die Militärregierungen immer wieder in die Arbeit des Parlamentarischen Rats einzugreifen und dabei auch entschieden auf ihre Kontrollfunktion in der Innen- und Außenpolitik, bei den Reparationen, beim Aufbau der Industrie (vorweg Ruhrgebiet) u. a. hinzuweisen. Deutschland war ja auch nach der Verabschiedung des Grundgesetzes noch lange nicht souverän.
Unterschiedliche Vorstellungen der einzelnen Parteien führten im Parlamentarischen Rat selbst zu oft sehr langwierigen Auseinandersetzungen. Während z. B. die CDU/CSU das Elternrecht über das Recht des Staates auf Erziehung und Ausbildung, so bei der Wahl der Schulform (Votum für Privatschulen und Bekenntnisschulen) stellte, wollte die SPD mit Verweis auf die Grundrechte gänzlich auf einen Artikel zum Elternrecht verzichten. Theodor Heuss (FDP), der spätere erste Bundespräsident, geißelte in diesem Rahmen die „Wichtigtuerei“ der Vertreter der beiden Kirchen im Gremium. Zudem gingen die Ansichten über Installation und Art einer Länderkammer und über den künftigen Kulturbetrieb oft weit auseinander. Adenauer warf man zeitweise vor, dass er zur Stärkung der Position von CDU/CSU die Militärgouverneure als Schiedsrichter zur Hilfe rufe, der SPD, dass sie mit Sir Brian Robertson taktiere, und beide großen Parteien bezichtigten sich in diesem Rahmen gegenseitig des „nationalen Verrats“. Als am 25.3.1949 ein Entwurf des Grundgesetzes von den Militärregierungen lediglich über Verbindungsoffiziere gar noch abgelehnt wurde, wuchs die Resignation im Parlamentarischen Rat in einem Ausmaß, dass man sogar die Arbeit ganz einstellen wollte. Diese Krise konnte erst durch die Außenministerkonferenz in Washington (05.04.1949) ein wenig gemildert werden.
Eigens gebildete Fünfer- und Siebenerausschüsse mussten dafür sorgen, dass die Stagnation ein Ende fand und letztendlich doch das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat am 8. Mai, dem 4. Jahrestag der bedingungslosen deutschen Kapitulation im 2. Weltkrieg, um 23.55 Uhr verabschiedet wurde. 53 befürwortenden Stimmen standen 12 ablehnende gegenüber, von denen 6 auf die CSU und jeweils 2 auf Zentrum, DP und KPD fielen. Bei der CSU vermisste man das christliche Gedankengut und eine zu geringe föderalistische Ausrichtung, die, wie man argumentierte, in der Überbetonung der Bundesgewalt und einem viel zu geringen Einfluss der Länder zum Ausdruck komme. Man wollte Bundestag und Bundesrat als gleichberechtigte gesetzgebende Organe im Grundgesetz verankert haben.
Dies und die Angst vor einer „chronischen Gefährdung des staatlichen Eigenlebens in Kultur, Finanzen und Wirtschaft“ führten dann auch in der 14stündigen Mammutsitzung des bayerischen Landtags vom 19. auf den 20. Mai zur Ablehnung des Grundgesetzes mit 101 zu 63 Stimmen. Die große Mehrheit der CSU, die gesamte Fraktion einer damals sehr starken Bayern-Partei und einige Fraktionslose führten diese Entscheidung herbei. Bei den Abgeordneten der Regierungspartei (Ministerpräsident Hans Ehard, CSU) spielte dabei wohl auch der zu diesem Zeitpunkt beängstigende Aufschwung der oppositionellen Bayernpartei eine Rolle, deren neuer Vorsitzender, Joseph Baumgartner, der 1948 aus der CSU ausgetreten war, mit seinen patriotischen Parolen bei der Bevölkerung großen Anklang fand. Er forderte „eine Volkserhebung für einen selbstständigen bayerischen Staat“ und wollte deswegen 400 000 Preußen des Landes verweisen.
Aber auch Wilhelm Hoegner, der zweimalige bayerische Ministerpräsident und geistige Vater der bayerischen Verfassung, zeigte sich als Repräsentant der SPD nicht gerade froh gestimmt: „Das Schicksal hat uns Deutsche so geschlagen, dass nichts anderes übrig bleibt, als unsere Blöße mit diesem Kleid des Grundgesetzes zu bedecken, mögen wir es eines Tages mit einem besseren vertauschen.“ Das bayerische Votum freilich spielte zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr, weil alle anderen Länder bereits kurz zuvor ihre Zustimmung gegeben hatten. Der bayerische Landtag bekannte sich anschließend in einer zweiten Abstimmung trotz dieser Ablehnung zum neuen Bundesstaat. Man arrangierte sich in der Folge auch hierzulande sehr schnell mit dem Grundgesetz, blieb aber bis zum heutigen Tag ein ausdauernder Kämpfer für den Föderalismus.
Ethische Positionen mit
Spielraum für Veränderung
Wo liegen die besonderen Stärken dieses Grundgesetzes? Der Rechtswissenschaftler Werner Thieme (Die Verfassungen Europas, 1997) bezeichnet es als Verdienst seiner Schöpfer „dass sie nicht nur einen Sozialstaat, sondern auch einen sozialen Rechtsstaat, nicht nur eine Demokratie, sondern eine freiheitliche Demokratie“ geschaffen haben. Und dies geschah unter der Bedingung, dass diese „vorläufige Verfassung“ einen Weg weisen und doch „in die Zeit hinein“ offen bleiben müsse, um dem zukünftigen Wandel in Staat und Gesellschaft entsprechen zu können. Sie müsse im Rahmen unverrückbarer ethischer Positionen, wie der Menschenwürde und der Grundrechte, auch Spielraum für Veränderungen lassen, zu denen es in 60 Jahren 52 Mal kam.
Hüter und Interpret ist dabei das Bundesverfassungsgericht. In der Gegenwart scheint es aber wieder einmal Mode geworden zu sein, die Aufnahme neuer Sachverhalte wie den Atomausstieg, den Datenschutz, die Generationsgerechtigkeit, Kinderrechte, das Wahlrecht von Geburt an, mehr Rechte für die Bundeswehr, die deutsche Sprache usw. usw. in das Grundgesetz hektisch voranzutreiben. Man sollte sich dabei sehr gründlich überlegen, ob solche Forderungen oft nicht nur als Folgen eng befristeter Zeiterscheinungen, politischer Profilneurosen oder ganz einfach auf Grund eines Veränderungsdrangs anzusehen sind. Denn es besteht durchaus die Gefahr, dass sich mit solchem Aktivismus eine bewährte Verfassung zu einem Gebots- und Verbotskatalog wandelt.
Dann müsste sie in der Tat im Sinne des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering als Auslaufmodell durch eine neue ersetzt werden, gewiss aber nicht deshalb, weil es, wie er meint, einige Stimmen aus dem Osten Deutschlands recht verspätet fordern. Noch sind Zweidrittel der Deutschen stolz auf ihre Verfassung. Der Bundestag würdigte sie vor einigen Tagen (bei allerdings sehr spärlicher Präsens der Abgeordneten in dieser Sitzung) zu Recht als „einzigartige Erfolgsgeschichte mit Vorbildcharakter“ und der bekannte deutsche Historiker und Rechtswissenschaftler Heinrich August Winkler bezeichnete sie zu ihrem Jubiläum als „die freiheitlichste und zugleich funktionstüchtigste der deutschen Geschichte“.