Herta Müller bestritt am Schyren-Gymnasium die Dichterlesung 1998

von Hellmuth Inderwies 

Viele Pfaffenhofener kannten nicht einmal ihren Namen und die wirklich Literaturbeflissenen waren zumeist ein wenig überrascht, als er bei der Bekanntgabe der Entscheidung der Königlich-Schwedischen Akademie in Stockholm fiel: Der Nobelpreis für Literatur im Jahre 2009 geht an Herta Müller. Dabei war die heute 56jährige, die im deutschsprachigen Nitzkydorf im rumänischen Banat geboren wurde und dort aufwuchs, Ende Oktober 1998 an zwei Tagen als 12. Autorin in der Reihe der Dichterlesungen am Schyren-Gymnasium zu Gast. Die Vorstellung ihres damals jüngsten Romans „Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet“ und einiger Essays standen im Mittelpunkt einer äußerst beeindruckenden Präsentation. Sie bildete gewissermaßen das kulturelle Resümee eines Jahres, in dem die Stadt Pfaffenhofen bei der Premiere ihrer „Europäischen Kulturtage“ die geistige Vielfalt des Kontinents thematisierte, wobei ein paar Monate vor Herta Müller bereits Carmen-Francesca Banciu, die der gleichen deutschen Sprachenklave in Rumänien entstammt, in einer Open- Air-Veranstaltung im Bürgergarten aus ihrem damals gerade erschienenen Bestseller „Vaterflucht“ gelesen hatte. Und 2008 gastierte schließlich Catalin Dorian Florescu, 1967 in Temeschwar geboren und seit 1982 in Zürich beheimatet, im Rahmen der „Interkulturellen und interreligiösen Wochen“ in der Kreisstadt. Auch er gehört zu jenen deutschsprachigen Rumänen, deren Dichtung auf Grund ihrer Auswanderung eine kulturelle Vielschichtigkeit aufweist, die sich in der Thematik, der Form und den Motiven ihrer Werke niederschlägt. Man hat solches Genre, das die deutsche Literatur in den letzten Jahrzehnten (seit etwa 1980) zweifelsohne internationalisiert und somit bereichert hat, in der Fachwelt mit dem viel zu plakativen Sammelbegriff „Migrantenliteratur“ bezeichnet.

müller

Karikatur von Loredano: Herta Müller

Was ist das für ein Land,
das an den Fingern reißt . . .
Wenn die Nobelpreisjury die Preisvergabe an Herta Müller damit begründet, dass sie „mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit zeichnet“, dann erfasst dies ihr Schaffen auf sehr viel präzisere Art. Denn diese Landschaften der Heimatlosigkeit gelten nicht nur für ihre Romane, sondern für sie selbst. In der Tat musste sie das, was ihr Heimat hätte sein können, verlassen, und in dem, was ihr Heimat hätte werden können, ist sie niemals richtig angekommen, wie sie seit 1987, dem Jahr ihrer Übersiedlung in die deutsche Hauptstadt, immer wieder betonte und auch bei ihrer Lesung in Pfaffenhofen in der Diskussion mit Schülern beklagte. „Die beiden Länder (Rumänien und Bundesrepublik) sind einander so fremd, dass nichts in ihnen und nichts in mir (von damals und jetzt) sich ungestraft begegnen kann.“ („Hunger und Seide“, Essays, 1995, S. 30) Verfolgung und Unterdrückung, Aussperrung und Folter im totalitären Ceausescu-Staat und dem Arbeits- und Publikationsverbot, das sie traf, zwangen sie, eine ihr mehr und mehr zum Feind gewordene Heimat zu fliehen. Allzu lange musste sie auf die Genehmigung der Ausreise warten. Die Entscheidung zwischen Bleiben und Gehen fiel ihr trotzdem nicht leicht: „Was ist das für ein Land, das an den Fingern reißt, wenn man den Koffer hebt“, so ist in den Miniaturen „Barfüßiger Februar“ (1987) zu lesen. Sie hatte hier, wenn auch in einer kulturellen Enklave aufgewachsen, Germanististik und Romanistik an der Universität in Temeschwar studiert, als Übersetzerin und Deutschlehrerin gearbeitet, bis sie aus dem Dienst entlassen wurde, weil sie sich weigerte mit der Geheimpolizei zusammen zu arbeiten. Herta Müller fühlt sich von ihr, die nur ihren Namen gewechselt hat, bis zum heutigen Tag beschattet und bedroht (s. DIE ZEIT, Nr. 31 vom 23.07.2009!), wenn sie Rumänien besucht, das seit dem 1.1.2007 zur EU gehört. Und Deutschland wiederum, das ihr zwar ein zweites und besseres Leben bietet und ihr das Recht zu „beißen und zu schlucken“ gibt, kann ihr die Tage der Kindheit und Jugend, in denen sich Heimat vorweg verinnerlicht, nicht noch einmal zurückgeben. Deshalb fühlt sie sich auch nicht im Stande, über dieses Land etwas Verbindliches zu sagen, weil sie sich schwer tut, es zu begreifen.

Man hatte bei ihrer Lesung in Paffenhofen stets den Eindruck, dass die, wie sehr oft bei ihren öffentlichen Auftritten, in Schwarz gekleidete, sehr bedacht sprechende und antwortende Autorin ihre leidvolle Vergangenheit und zugleich die Ernsthaftigkeit ihres gegenwärtigen Daseins in vollem Maße lebt: „Ich bin zum Schreiben gezwungen über jene, die meine Vergangenheit verschuldet haben, damit niemand mehr das gleiche Schicksal erduldet wie ich.“ Es schien, als könne Herta Müller allenfalls in ihrer Sprache noch Heimat finden wie jene deutschen Autoren, die sich im Dritten Reich ins Exil begeben mussten. Sie freilich beteuerte gegenüber den Zuhörern, dass nur das Heimat sein könne, was gesprochen wird, nicht die Sprache. Denn diese sei sehr oft vorgeschrieben und verordnet. Und in der Dichtung spiele sie eben auch vielfach die Rolle einer schonungslosen Vermittlerin des Schrecklichen. „Der Unterleib war ausgefroren, die Beine schoben sich totkalt in die Därme“, heißt es in ihrem jüngsten, von der Kritik überschwänglich gefeierten Roman „Atemschaukel“. Mit ihrer sehr sachlich-realistischen, oft auch recht derben und bildhaft-metaphorischen, dabei stark reduzierten Form, die nicht selten lyrische Kraft erreicht, macht Herta Müller das Geschehen transparent. Zudem beherrscht sie die Kunst des ersten Satzes wie nur wenige. „Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn. Ich werde immer öfter bestellt: Dienstag Punkt zehn, Samstag Punkt zehn, Mittwoch oder Montag.“ So beginnt ihr Roman „Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet“.

Literatur insgesamt
entsteht aus Beschädigung

Solcher Kontext der Werke von Herta Müller kann nicht annähernd mit dem Begriff „Migrationsliteratur“ zum Ausdruck gebracht werden. Denn sie befindet sich in einer extremen Exilsituation, die ihr ganzes Leben erfasst und die sie zur Feststellung veranlasste: „Meine Überzeugung ist, dass Literatur insgesamt aus Beschädigung entsteht.“ Es sind vor allem die Beschädigungen der Vergangenheit, die sie immer wieder in ihren Werken als Thema und Motiv aufgreift. Furchtbare Erinnerungen an Erlebtes und dessen schreckliche Verschiedenartigkeit gilt es zu vergegenwärtigen und im Bewusstsein zu halten. Wenn der in der DDR aufgewachsene Thomas Brussig (geb. 1965), der 2001 bei der 14. Dichterlesung am Schyren-Gymnasium zu Gast war, nach dem Entscheid über die Nobelpreisvergabe in einem Fernsehinterview die Meinung vertrat, dass man eine richtige Wahl getroffen habe und jeder ein Buch von Herta Müller gelesen haben sollte, dass es aber auch reiche, eines gelesen zu haben, weil es ihr an Bandbreite fehle, so kann man dem nur teilweise zustimmen. Brussig bagatellisiert ganz offensichtlich, welcher außerordentlichen Vielfalt an Machtinstrumenten sich totalitäre Regime bedienen, welche zahlreichen Möglichkeiten individueller Selbstverwirklichung dadurch im Keime erstickt werden und wie verschieden Menschen in solchen Lebenssituationen fühlen und handeln. Es gehört zum menschlichen Selbstverständnis, daran nicht nur einmal, sondern immer wieder und möglichst umfassend zu erinnern, wenn aus der Vergangenheit Schlüsse gezogen werden sollen.

müller2

Mit einer Vielzahl von
Preisen ausgezeichnet
Unverständlich bleibt es, dass Marcel Reich-Ranitzki aus Enttäuschung darüber, dass nicht der von ihm favorisierte Philip Roth bei der Vergabe des Nobelpreises berücksichtigt wurde, eine Stellungnahme verweigerte: „Ich will nicht über die Herta Müller reden. Adieu.“ Und Thomas Steinfeld in der SZ (Freitag, 9. Okt. 2009, S. 11) die sehr vage Vermutung hegt, „dass sich Leser und literarische Kritik bis auf weiteres von einer lieben Vorstellung trennen müssen, dass der Nobelpreis für Literatur eine Belohnung für die besten Dichter und die besten Werke sei.“ Darüber zu entscheiden, liegt weder in seiner noch in der Kompetenz der Schwedischen Akademie, sondern man wird es dem Urteil der Nachwelt überlassen müssen, was sich als bleibender Wert und damit als Bestes bewährt. In Alfred Nobels Testament heißt es im Übrigen, dass der Preis an denjenigen gehen solle, der im letzten Jahr, „in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat“. Herta Müllers Schaffen, das bisher schon mit einer Vielzahl von herausragenden Preisen ausgezeichnet wurde, kann gewiss einer solchen Maßgabe gerecht werden.

müller3

Hier, wo Catalin Florescu liest, las auch die Nobelpreisträgerin