Alighieri Dante und sein Traum von Europa – sich erinnern als Lernprozess für die Zukunft

Ganz offensichtlich ist es in unserer Zeit wieder einmal Mode geworden, dass der Mensch seine Geschichte allzu sehr für eine realitätsferne Fiktion des Vergangenen hält. Er begreift sie, wenn überhaupt, eher als Fabel denn als Fakt und lebt ausschließlich in der Gegenwart, obwohl die großen Denker des Abendlands von Augustinus bis Martin Heidegger mit Nachdruck darauf hinweisen, dass das Zeitbewusstsein und das Selbstverständnis des Menschen von seiner Vergangenheit und seiner Zukunft bestimmt werden.

Von Gedenktagen wichtiger geschichtlicher Ereignisse und Personen, die heute in großer Vielzahl in unserem Kalendarium enthalten sind, geht kaum eine Wirkung auf das Bewusstsein aus. Wie sagte doch einmal Ingeborg Bachmann, die große österreichische Lyrikerin: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

Und das gilt allenthalben für das heutige Europa, das in der Tat kein allzu aufmerksamer Schüler ist, wenn es um seine Geschichte geht. Regulierung und Sanierung der Staatsfinanzen und der abstrusen Bankenwirtschaft, Binnenmarkt und Freihandel sowie fließbandartig produzierte, oft gänzlich überflüssige Direktiven zur Bewerkstelligung des Alltags stehen ohne Einschränkung im Mittelpunkt des Interesses. Die Erinnerung daran, dass der alte Kontinent einst auch über Jahrhunderte eine Wertegemeinschaft bildete, die es nach den verhängnisvollen Kriegen des 20. Jahrhunderts zu erneuern und zu entwickeln gilt, gehört offensichtlich nicht zum Lehrplan der europäischen Gegenwart. Umso mehr ist es heute geboten, nicht nur die dunklen Seiten der Vergangenheit sporadisch aufzuarbeiten, sondern auch die Leistung geschichtlicher Vorbilder vor Augen zu führen, auf deren Gedankengut ein Europa, will es denn eine Zukunft haben, ohne Wenn und Aber aufbauen muss.

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Es gilt in diesen Tagen sich eines Europäers zu erinnern, der vor 750 Jahren in Florenz geboren wurde – Tag und Monat sind unsicher – und der zu den ganz Großen des alten Kontinents gehört: Alighieri Dante (1265 – 1321), Dichter und Philosoph. Was kann er einer säkularisierten und moralisch wie ethisch diffusen Gesellschaft unserer Zeit noch an Werten und Perspektiven vermitteln? Sein umfassendes dichterisches Werk fußt auf dem von der Scholastik geschaffenen Weltbild des christlichen Mittelalters. Dieses wird vorweg in seiner berühmten „Comedia“, sie wurde erst im 16. Jahrhundert wegen ihrer Bedeutung und der Wertschätzung des Dichters als „Divina Comedia“, als „Göttliche Komödie“ bezeichnet, und in seinem philosophischen Hauptwerk „De Monarchia“ („Über die Monarchie“) transparent. Auf die hier enthaltenen Visionen zu Eu­ropa möchte ich einen kurzen Blick werfen und ihre Aktualität an einigen Beispielen vor Augen führen.

Mag unserer säkularisierten opportunistischen Gegenwart das dualistische augustinische Weltbild, das der zwischen 1307 und 1321 entstandenen „Comedia“ zugrunde liegt, vielen nicht mehr so präsent sein wie im Mittelalter, vielleicht auch nicht mehr so glaubhaft, wenn Dante, der Dichter selbst, auf einem Weg im Jenseits, der vom Reich der Verdammten, dem Inferno, der Hölle, über das Reich der erlösbaren Büßer, dem Purgatorio, dem Fegfeuer, ins Reich der Seligen, dem Paradiso, also dem Paradies, gelangt. Aber es werden hierbei elementare ethische und moralische Grundwerte vor Augen geführt, die zeitlose Bedeutung besitzen, will der Mensch in seinem Streben nach mehr Lebensqualität seinem Dasein einen menschenwürdigen Charakter verleihen.

Das Werk zeigt auf, welche Mühe und Anstrengung notwendig sind, bis er von einem fehlerhaften irrenden zu einem sittlichen Wesen gereift ist. Dazu bedarf es der Führung eines erfahrenen Begleiters. Dante findet ihn in der Vergangenheit, in der Geschichte. Es ist Vergil, der Vater des Abendlands, der Repräsentant natürlicher Weltweisheit, der ihm für die altrömische „virtus“ mit ihren bewährten ethischen Normen die Augen öffnet. Er erscheint dem Dichter am Karfreitag des Jahres 1300, um ihn durch das Jenseits zu einem glückseligen Leben zu führen. „Labor omnia vincit improbus!“ („Harte Arbeit überwindet alles!“) heißt auf diesem Weg die Doktrin, deren zeitlose Gültigkeit Vergil in seinem Lehrgedicht „Georgica“ („Über das Landleben“, 1,145f.) bereits lange zuvor nachgewiesen hat.

Dante erinnert an den klassischen Dichter zu Zeiten des römischen Kaisers Augustus, der in der „Comedia“ gewissermaßen als Allegorie des Friedens, einer festen Hoffnung und des unerschütterlichen Glaubens an eine bessere Zukunft in Erscheinung tritt. Und Dante weist in diesem Zusammenhang darauf hin, welch ungeheuere Verantwortung jeder einzelne Mensch für sich und seinen Nächsten bei all seinem Tun zu tragen hat. Ein außerordentlich progressiver Gedanke in einer Zeit, in der doch allein die Obrigkeit für das Denken und Handeln aller ihr anvertrauten Untertanen zuständig ist! Nun soll nach Dante das gemeinschaftsbewusste Individuum selbst Verantwortung übernehmen. Ein Gedanke, der erst durch die deutsche Aufklärung des 18. Jahrhunderts, durch Immanuel Kant, zu einem Postulat geworden ist, als er von jedem einzelnen Menschen, ein „sapere aude!“ forderte: „Wage es, deinen Verstand zu gebrauchen!“ Und dieser Grundsatz ist unabdingbar das Fundament für eine echte demokratische Gesellschaftsordnung der Gegenwart. Ich bin nicht der Auffassung, dass diese geistige Emanzipation des Menschen, wie sie bereits Dante ersehnte, in unserer Zeit schon gänzlich vollzogen ist.

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Sie aber ist heute mehr denn je Voraussetzung dafür, aufrichtige Selbstkritik und ausgewogene Kritik an der Handlungsweise anderer, vor allem auch an der Obrigkeit, üben zu können. Absolute Loyalität gegenüber den Machthabern ist nach Dantes Überzeugung fehl am Platz. Die strenge Autokratie und Hierarchie des Mittelalters hat ihn nicht daran gehindert, seine Ansichten öffentlich zu äußern und zugleich auch als Vermittler zwischen rivalisierenden politischen Gruppen aufzutreten. Seine Vaterstadt Florenz hat ihren auf Ausgleich bedachten Bürger, als er das hohe öffentliche Amt eines Priors (Gouverneur) begleitete, zunächst dafür verbannt und ihn nachträglich, als er sich bereits als Asylant im Exil befand, sogar zum Tod verurteilt. Sein Schicksal ist ein menschliches Dauerschicksal in der Geschichte. Es wäre wünschenswert, wenn in der Gegenwart der europäische Bürger bereits der Wahl seiner politischen Vertreter mehr Bedeutung zumessen und ihnen hernach couragierter begegnen würde, damit seine Anliegen in angemessener Weise Gehör fänden. Und es wäre gleichermaßen erstrebenswert, wenn trotz gegensätzlicher Standpunkte der Gedanke solidarischen Zusammenlebens, wie ihn Dante zu verwirklichen suchte, in einer Europäischen Union bei den Bürgern wie Politikern verschiedener Nationalität als ethischer Grundwert stärker verankert wäre.

Dante scheute sich als ein geschichtsbewusster und zugleich fortschrittlicher Geist seiner Zeit in der Tat nicht, bittere Kritik an Autoritäten zu üben, wenn sie seiner Meinung nach auf Abwege geraten waren. Und es sind nicht wenige unter den 600 berühmten mythischen und his­torischen, aber auch schon verstorbenen zeitgenössischen Gestalten, denen der Dichter in der „Comedia“ auf seiner Wanderung im Jenseits begegnet, und von denen viele im Namen Gottes teuflische Missetaten begangen hatten und nicht einmal hier jene irdischen Verfehlungen einsehen und bereuen.

Wenn auch die Moral dieser Menschen erst in dieser jenseitigen Welt entlarvt und offengelegt wird, so muss das Werk doch als Spiegel der irdischen Realität mit den hier herrschenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen gedeutet werden. Dante weist den Leser bereits im ersten Gesang seiner „Comedia“ auf diese Perspektive in einem sehr subjektiven Prolog hin, der seine eigene persönliche Situation als Ausgangspunkt des folgenden Geschehens vor Augen führt (1. Gesang):

„Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe,
da mich ein dunkler Wald umfing und ich,
verirrt, den rechten Weg nicht wiederfand.
Wie war der Wald so dicht und dornig,
o weh, dass ich es nicht erzählen mag
und die Erinnerung daran mich schreckt.
Viel bitterer kann selbst der Tod nicht sein.“

Eine kurzfristige Hoffung, die sich dem Dichter auftut, als er vor einem Berg steht, der von strahlendem Gestirn umhüllt war, erweist sich als trügerisch:

„Schon gleich am Aufstieg, siehe da,
entgegnet mir ein schlank und flink Pardel,
und derart huscht sein buntgeflecktes Fell
im Hin und Her mir immer vors Gesicht
und stört und hindert meinen Aufstieg so,
dass ich schon wankend wieder weichen wollte.“

Drei Tiere sind es, die dem Dichter hier zum Hindernis werden: Leopard, Löwe und Wölfin. Sie sind in der Vorstellung seiner Zeit mit den Lastern Wollust, Stolz und Habgier gleich zu setzen. Und eben solche Laster spielen im Inferno, in der Hölle, zusammen mit Neid, Jähzorn, Häresie, Gewalt, Täuschung und vor allem Verrat gerade bei jenen eine zentrale Rolle, die ihre Laster und Verbrechen nicht erkennen und auch nicht bereuen wollen. Sie sind auf ewig in Eis eingefroren. Es sind gesellschaftliche Phänomene, die Dante in seiner Zeit registrierte und die unserer Gegenwart in gleichem Maße zu eigen sind! Wir brauchen nur die zahlreichen Korruptionsfälle auf höchster Ebene oder habsüchtigen Geiz als Ursache für soziale Ungleichheit betrachten. Er schont im siebten Gesang des Infernos die Obrigkeit von Klerikern, Päpsten und Kardinälen nicht, wenn es um den rechten Gebrauch irdischer Güter geht:

„Neiderfüllten Geistes allesamt
In ihrem Erdenleben waren sie.
Das rechte Maß im Aufwand kannte keiner. (…)
Im Geben und im Nehmen ohne Maß,
verloren sie das Schönste, und nun zanken
sie sich derart hier, dass ich es nicht mehr schildere.“

Dante thematisiert pseudo-kapitalistisches Verhalten, das ausschließlich dem Selbstzweck dient und das wegen des Neids auf den Konkurrenten keine Grenzen kennt. Und er fordert, dass wirtschaftliches Handeln, dass die Ökonomie dem Wohl aller Menschen zu dienen hat,
„damit (…) eitler Reichtum wandre
Von Volk zu Volk, von einem Stamm zum nächsten,
und keine Menschensatzung es verhindre.“

Nicht nur eine Anomalie des „dunklen Mittelalter“, sondern ein in der Gegenwart fast noch brisanteres Phänomen!

Auch in der Beziehung der Geschlechter zu einander entfernt er sich von der streng patriarchalischen Gesellschaftsstruktur seiner Zeit, in der die Frau unter der Vorherrschaft und der Verantwortung des Mannes stand und proklamiert im 5. Gesang des Infernos am Beispiel der vom Vater verfügten Verheiratung der Francesca da Polenta ein System der Gleichberechtigung, da alle Menschen, Mann wie Frau, in der gleichen Eigenverantwortung stehen, wenn es um die Bewertung ihrer guten und schlechten Taten geht.

Und in einem dritten Beispiel vertritt Dante in der „Comedia“ im 4. Gesang des Infernos einen Standpunkt, der gerade auch in unserer Zeit von zentraler Bedeutung ist. Er rückt ab von der absoluten Alleingültigkeit der traditionellen Einheitskultur des mittelalterlichen Universalreiches und entwirft das Bild eines Pluralismus von Kulturen, die friedlich neben einander existieren, auch wenn für ihn die klassische Antike mit der griechischen Mythologie, die römische Politik und auf diesem Fundament vor allem die zeitgenössische Mystik des Christentums uneingeschränkt im Zentrum stehen. Da führt er eine bunte Gesellschaft mythischer und historischer Gestalten, Christen und Heiden im Dialog mit Aristoteles, dem Meister aller Wissenden, zusammen. Nicht nur Hektor, Elektra und Aeneas, Sokrates, Plato und Hypokrates, Cäsar, Brutus und Cornelia gehören dazu, sondern auch die arabische Welt eines Averroes, Avicenna und des Sultans Saladin, von denen aber gleichermaßen ein tugendhaftes, sittliches Handeln erwartet wird. Toleranz ist gefordert. Kultur, gleichgültig welcher Art, hat bei ihm mit friedlichem Zusammenleben zu tun.

Reue, Buße und Hoffnung sind Grundvoraussetzungen, um über jenen inneren Reinigungsprozess im Purgatorium in jene Welt der Tugend, der Wissenschaften und der Erkenntnis zu gelangen, in der die vom Dichter so außerordentlich verehrte Beatrice lebt, die ihm den Vergil als Begleiter geschickt hat. Die Liebe zu ihr, dem Ideal von Schönheit, Weisheit und sittlicher Gesinnung, ist die Ursache für seine Befreiung aus den Irrungen dieser Welt und sie ist zugleich die Triebfeder seines Schaffens, ja seines Lebens:
„Ich bin ein Mensch, der immer
Wenn Liebe ihn behaucht es wohl bemerket,
Und wie sie in mir spricht, so muss ich’s sagen.“
(Purgatorium, 24. Gesang)

Und auch hier wird ein zeitloses Gesetz, wie es Vergil in seiner 10. Ekloge (Z.69) formuliert hat, transparent: „Omnia vincit amor: et nos cedamus amori!“ („Die Liebe besiegt alles: Wollen auch wir der Liebe uns fügen!“)

Die „Divina Comedia“, die am Beginn der italienischen Literatur steht, ist bis heute auch ihr bedeutendstes Werk geblieben und wegen ihrer zeitlosen Thematik eines der bedeutendsten der Weltliteratur.

Ein gesellschaftspolitisches Modell zur Erneuerung des mittelalterlichen Imperiums steht im Mittelpunkt von Dantes philosophischem Hauptwerk „De Monarchia“(„Über die Monarchie“). Als die weltliche Macht des Kaisertums ab dem 13. Jahrhundert im Schwinden war und deshalb der Einfluss der Territorialherrn immer mehr anwuchs, drohte das mittelalterliche Universalreich in Teile auseinanderzufallen. Die divergierenden Sonderinteressen der Fürsten führten zu Spannungen, die nahezu schon einen nationalen Charakter annahmen, weil jeder kleine Territorialherr auf seine Art wie ein Souverän über seine Untertanen herrschte.

Dante erlebt diese Zersplitterung in seinem Heimatland und klagt (Comedia, 6. Ges. 76 – 79): „Wehe Italien, knechtisches Land des Elends!/ Ein steuerloses Schiff bist du im Sturm,/ keine Herrscherin von Provinzen, sondern ein Bordell!“
(„Ahi serva Italia, di dolore ostello,/
nave sanza nocchiere in gran tempesta,/
non donna di province, ma bordello!“)

Wird da nicht ein Bild gezeichnet, das auch dem gegenwärtigen Zustand Europas trotz aller Integrationsbemühungen in hohem Maße gleicht? Dante gehörte zu jenen, die sich in einer solchen Situation nach der verloren geglaubten Einheit des Imperiums sehnten und sie wieder erneuern wollten. Dieses Imperium muss seiner Auffassung nach nicht unbedingt unitaristisch sein. Zum ersten Mal taucht bei ihm der Gedanke eines föderalistischen Aufbaus auf. Eine außerordentlich moderne, ja progressive Idee. Seine Abhandlung „Über die Monarchie“ konkretisiert zudem einen Grundgedanken, den er bereits in seinem unvollendeten Werk „Convivio“ (1306) geäußert hatte:

„Wenn alle Kriege und ihre Ursachen von der Welt verschwinden sollen, müssen notwendig die ganze Erde und aller menschlicher Besitz zu einer Monarchie, d. h. zu einer einzigen Herrschaft zusammengeschlossen sein und einen Herrscher haben.“

Monarchie, Herrschaft, Herrscher sind hier nicht nur als regierende Institutionen zu sehen, die Macht ausüben, sondern gleichermaßen als Verkörperung einer gemeinsamen Idee, nämlich der universalen geistigen Einheit im Zeichen des Christentums wie sie noch das hohe Mittelalter gekannt hat. Gerade deshalb suchte Dante den Ausgleich zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft, indem er die Machtbefugnisse beider auf eine Ebene stellte und sie klar unterschied und von einander abgrenzte. Als unentwegter Utopist wollte er das Rechtsverhältnis zwischen Kirche und Staat spekulativ und sittlich geordnet wissen. Nur unter dieser Voraussetzung können nach Dantes Auffassung auch gemeinsame Werte wirksam werden. Und er nennt sie: Den Frieden in der Welt kann nur eine oberste Herrschaft gewährleisten, die diese universale geistige Einheit verkörpert. Sie braucht sich nicht mehr zu profilieren, deshalb führt sie auch keine Kriege. Sie steht über allem. Deshalb kann sie auch Gerechtigkeit gegenüber allen üben. Und sie ist als integrer Souverän zudem der Schirmherr des Prinzips der Freiheit im Sinne der Schöpfungsordnung.

Das heutige Europa und seine politischen Machthaber können in der Tat von diesem großen Europäer Alighieri Dante noch Manches lernen. Sie müssen aber zu Schülern der Geschichte werden und als solche seinen Traum von einer modernen europäischen Solidar- und Wertegemeinschaft in die Tat umsetzen.

von Hellmuth Inderwies